An Theodor Storm - Zürich, den 29. Dezember 1881.

Lieber Freund und Mann zu Hademarschen!

Ihrem frohgemuten Briefe vom 27. November sind bald die beiden Doppelbände der Gesamtwerke nachgefolgt, und ich habe die einzelnen mir schon bekannten Kleinode aufmerksam gezählt und beguckt, eh ich sie zu den übrigen in den Schrein stellte. Die Erinnerungen an Mörike las ich freilich vorher durch, da sie mir so gut wie neu waren. Wie gewohnt, wenn die Rede von ihm ist, lief ich wiederholt nach seinen Bänden, um mich dieser und jener Stelle gleich zu versichern und halbe Stunden lang fortzulesen ...


Ihre Weihnachtsfreuden haben Sie nun hinter sich und das behagliche Wohlleben der Neujahrstage und so fort noch vor sich, wozu ich meine Glückwünsche rück- und vorwärts beitrage ...

Auch zu dem Herrn Pastor, Ihrem Schwiegersohn, gratuliere ich schönstens. Ein solch stattliches Familienstück gehört unter die Johann Heinrich Voßschen Himmelsstriche.

Was Sie mir als Menschenmangel anmerken wollen, versteh ich nicht recht. Ich lebe gesellschaftlich mit allerlei Leuten alten und neueren Datums. Das sogenannte Handwerk allerdings vermeide ich, wenn es nicht mit der erforderlichen einfachen und loyalen Menschennatur verbunden ist. So war ich in Verlegenheit, mit welcher der gelehrten und ungelehrten Gesellschaften Zürichs ich den üblichen Neujahrsschmaus einnehmen wolle, und habe mich für das Artilleriekollegium entschieden, jene zweihundertjährige Gesellschaft, die im Eingang der ›Zürcher Novellen‹ geschildert ist und mich dafür zu ihrem Mitglied ernannt hat. Ich habe auch schon zweimal im Juni mit den Herren aus Mörsern (Kruppschen) nach der Scheibe geschossen und ein paar gute Schüsse abgegeben, die man mir natürlich gerichtet hat. Da werde ich am 2. Januar, dem Berchtoldstage, der ein uralter Freudentag hier ist, mitten unter alten und jungen Artillerieoffizieren sitzen und Rheinwein aus silbernen Pokalen trinken. Heut abend soll ich zu einer großen Liedertafel gehen, die ihren vierzigjährigen Bestand feiert, und so ist immer was los, wenn man Lust hat ...

Leben Sie glücklich in das neue Jahr hinein mit allen Ihrigen.

Der alte
G. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe