An Theodor Storm - Zürich, den 26. Februar 1879.

Ihr Brief, liebster Freund, so willkommen er mir ist, hat mich doch in ärgerlicher Weise an meiner Saumseligkeit ertappt, mit welcher ich seit Monaten mit einem Briefe an Sie laborierte. Der Winter ist mir zum ersten Mal fast unerträglich geworden und hat fast alle Schreiberei lahmgelegt. Immer grau und lichtlos, dabei ungewöhnlich kalt und schneereich, nach vorangegangenem Regenjahr, hat er mir fast täglich namentlich die Morgenstunden vereitelt. Ein einziges Mal hatte ich neulich ein Frühvergnügen, als ich eines Kaminfegers wegen um vier Uhr aufstehen mußte, der den Ofen zu reinigen hatte. Da sah ich das ganze Alpengebirge im Süden, auf acht bis zwölf Meilen Entfernung, im hellen Mondscheine liegen, wie einen Traum, durch die vom Föhnwinde verdünnte Luft. Am Tage war natürlich alles wieder Nebel und Düsternis ... Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem Landkaufe und Baumpflanzen; wer die Mutter noch hat, darf wohl noch Bäume setzen; warten Sie aber womöglich nicht zu lange, bis Sie bauen. Die Gesetzänderungen, welche Ihnen so mal à propos noch auf den Hals fallen, soll auch der Teufel holen, so zweckmäßig sie sein mögen. Ich habe vor zehn Jahren etwas Ähnliches erfahren: Gerade als ich in mein Amt so voll eingeschossen war, daß ich Aussicht hatte, etwas Muße zu gewinnen, gabs eine trockene, aber radikale Staatsumwälzung, eine neue Verfassung wurde gemacht, infolgedessen eine Reihe neuer Gesetze, so daß ich neben den laufenden Geschäften zwei Jahre lang fast Tag und Nacht Schwatzprotokolle zu schreiben hatte, die nachher zur Interpretation dienen sollen, wenn die Esel nicht mehr wissen, was sie gewollt haben. Da war es denn mit der Dichterei wieder fertig, besonders da die zweite Staatsschreiberstelle auch abgeschafft wurde und ich als einziger und unteilbarer Skribar dastand, weshalb Ihre Adressen auch nicht mehr richtig sind. Ich möchte Ihnen bei diesem Anlasse auch belieben, fragliche Titulatur überhaupt abzuschaffen, sintemalen dieselbe in der knauserigen Republik keine Pension einträgt ...

... Da wir an Geldsachen sind, will ich gleich noch einen wichtigen Punkt zur Sprache bringen. Sie haben nämlich schon einige Male Ihre Briefe mit Zehnpfennigmarken frankiert, während es nach außerhalb des Reiches zwanzig sein müssen. Nun habe ich eine Schwester und säuerliche alte Jungfer bei mir, die jedesmal, wenn sie das Strafporto von vierzig Pfennigen in das Körbchen legt, das sie dem Briefträger an einer Schnur vom Fenster des dritten Stockes hinunter läßt, das Zetergeschrei erhebt: »Da hat wieder einer nicht genug frankiert!« Der Briefträger, dem das Spaß macht, zetert unten im Garten ebenfalls und schon von weitem: »Jungfer Keller, es hat wieder einer nicht frankiert!« Dann wälzt sich der Spektakel in mein Zimmer: »Wer ist denn da wieder?« (An Ihren Beraubungen haben Sie nämlich Konkurrenz in den österreichischen Backfischen, die an alle Dichter der letzten jeweiligen Weihnachtsanthologie um Autographen schreiben, sofern der Wohnort des betreffenden Klassikers aus dem Buche ersichtlich ist.) »Den nächsten Brief dieser Art«, schreit die Schwester fort, »wird man sicherlich nicht mehr annehmen!« - »Du wirst nicht des Teufels sein!« schrei ich entgegen. Dann sucht sie die Brille, um Adresse und Poststempel zu studieren, verfällt aber, da sie meine offenstehende warme Ofenröhre bemerkt, darauf, die Erbssuppe von gestern zu holen und in die Wärme zu stellen, so daß ich den schönsten Küchengeruch in mein Studierzimmer bekäme, was sonderlich für den Fall eines Besuches angenehm ist. »Raus mit der Suppe!« heißts jetzt, »und stell sie in deinen Ofen!« »Dort steht schon ein Topf, mehr hat nicht Platz, weil der Boden abschüssig ist!« Neuer Wortkampf über die Renovation des Bodens, endlich aber segelt die Suppe ab, und die Portofrage ist darüber für einmal wieder vergessen; denn mit der Suppe hat Angriff und Verteidigung, Sieg und Niederlage gewechselt. - Haben Sie also die Güte, der Quelle dieser Kriegsläufte nachzugehen und sie zu verstopfen ...


Ich danke für Ihre Jahreswünsche gar herzlich und hoffe, daß ich in der Tat einen Ruck vorwärts tue mit meinen Lebensrestanzen; denn der Handel fängt doch an, unsicher zu werden, lind ein Altersgenosse nach dem anderen wird kampfunfähig oder segelt gar von dannen. Ihnen wünsche ich gleichfalls das Beste. Mögen Ihre Bäume lustig gedeihen und zugleich die Mama noch gute Frist gewinnen, daß Sie nicht wegziehen; so ist die richtige Spannung vorhanden, wie mir scheint.

Ihr
G.Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe