An Theodor Storm - Zürich, den 22. September 1882

Sie haben es, trefflicher Freundesmann, nicht gut gemacht mit Ihrem Unwohlsein; hoffentlich haben Sie noch einen Teil des Sommers gerettet, der nach einem Briefe unseres Petersen so schön war in dortigen Landen. Hier ist nichts als Regen und Regen seit Monaten; man bedauert nur die armen Touristen, die nicht so gescheit sind, wie Sie und Petersen, und in ihren idyllischen Heimatslandschaften fein zu Haus bleiben. Es kriecht übrigens alles durch das Gotthardloch nach jenseits, wo sie nun auch Überschwemmung haben. Ihren ›Hans und Heinz‹ werde ich mir sogleich zu Gemüt führen, sobald das Heft kommt. Es ist jetzt jedesmal eine Art Lebensfrage bei einer neuen Novelle. Was ists? Wie ists? und so weiter wegen der maßlosen Produktion, die sich jetzt breit macht. Die Quelle originaler Anschauung und Erfahrung, das lebendige Blut fließt zwar nach wie vor selten genug; aber den Duktum hantieren sie bald alle gleichmäßig und schneiden einem dazu noch allerhand Knöpfe vom Rocke, die sie unverfroren auf ihren Kittel nähen. Da fragt man sich oft, ob es noch eine Aufgabe sei, den Kopf aus dieser Sündflut emporstrecken zu wollen. Nun, ich hoffe, mich an Ihrem Novum wieder zu kräftigen und zu erbauen ...

Ihr Erich Schmidt ist ein geistiger und liebenswürdiger Gesell. Er gehört zwar zu der Schererschen Germanistenschule, welche auch bei den Lebenden das Gras wachsen hört und besser wissen will, woher und wie sie leben und schaffen, als diese selbst. Allein die gleichen Leute haben ein frisches, unparteiisches und doch wohlwollendes Wesen; sie sagen ihr Sprüchlein, ohne sich im mindesten um Dank und Gegendienste zu kümmern, und am Ende haben sie wenigstens einen sicheren Standpunkt und eine Methode, welche besser ist als gar nichts, was bei den meisten Rezensenten der Fall ist ...


Mit den drei Auflagen des ›Sinngedichts‹ während des ersten halben Jahres, und zwar zu fünfzehnhundert die Auflage, hat es seine Richtigkeit, scheint aber jetzt genug zu sein. Der Verleger versteht jedenfalls den Handel und betreibt ihn auch gehörig. Er wird auch die Gedichte drucken. Leider muß ich jetzt mein armes Manuskript auf Wochen hinaus sistieren, da der Wohnungswechsel vor der Türe steht und schwerfällig genug ausfallen wird für uns zwei alte Leutchen. Die gute Schwester nimmt alles viel zu schwer und zu disputierlich. Sie befindet sich besser als im Frühjahr; allein sie ist eben im allgemeinen schwächlich geworden und ist puncto alte Jungfer auf die unglücklichere Seite dieser Nation zu stehen gekommen. Ihre freundlichen Grüße tun ihr gut und sie erwidert dieselben höflichst. Ich muß sie aber jedesmal mit einer gewissen Trockenheit anbringen, wenn sie wirken sollen.

Nun gehaben Sie sich wohl und seien Sie schönstens bedankt für Ihre Teilnahme.

Ihr
Gottfr. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe