An Paul Heyse - Am 19. Juli 1879 war Kellers 60. Geburtstag von den Züricher Freunden mit einem auserlesenen Festessen gefeiert worden. - Zürich, den 16. März 1880

Liebster Freund!

Als sich nach meinem letztjährigen Geburtstagsschwindel das Kopfweh allmählich verzogen hatte und ich Dein freundliches Telegramm zum Angedenken weglegte (nebst einigen Flaschenetiketten, so meine sauberen Freunde mit Zitaten aus meinen ungesammelten Werken geziert hatten), sah ich in meinem Nachschlagewerk nach, wann eigentlich Dein Geburtstag sich abzuspielen pflege. Ich fand den 15. März. Als ich einige Zeit später herausklügelte, daß der diesjährige Tag, der dem Cäsar den Tod gebracht, Dich mildiglich um die Ecke des halben Jahrhunderts herumschiebe, und als ich bald darauf eines Abends spät aus dem Wirtshaus kam, machte ich in vorsichtiger Begeisterung nachstehenden Vierzeiler auf Vorrat, um ganz sicher Dich telegraphisch damit überfallen zu können. Eine etwas geistreichere Ausgestaltung behielt ich mir vor. Bis vor acht Tagen behielt ich beides im Auge, dann – kurz, heute, den 16. März, gewahre ich, daß gestern der 15. gewesen ist!


Genug! Du verstehst mich! Doch sollst Du nicht ganz darum herumkommen; das Telegramm würde so gelautet haben, wenn ichs nicht verschlafen hätte:
Hier auch ein Blättlein Deines Kranzes!
Ein halb Jahrhundert ist kein ganzes;
Ein Doppelbecher sei Dein Leben.
Wend um, trink fort, gieß nicht daneben!

Dein überall zu spät kommender Freund und Bruder

Gottfr. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe