An Marie von Frisch geb. Exner - Zürich, den 20. Dez. 1875.

Höchst verehrungswürdige Frau Professorin und Mama!

Ich beglückwünsche Sie nachträglich noch eifrigst wegen Ihres Söhnleins in der Hoffnung, es stehe noch alles gut mit demselben, die Gesundheit vortrefflich, die Schönheit unvergleichlich, die Gescheitheit über jeden Vergleich erhaben.


Um aber auf dem Pfade der Tugend eine rechtzeitige Einwirkung zu erzielen und das junge Männlein zu einem männlich tüchtigen Kumpan heranbilden zu helfen, übersende ich Ihnen hiermit ein erstes Trinkgeschirrchen; er wird es freilich noch nicht regieren können. Bis dahin müssen wir einen Notbehelf erfinden. Dazu dienen die Baseler Leckerli, welche Sie in altem Rotwein einweichen, in Lutschbeutel (schweizerisch: Nüggi) packen und auf diese Weise dem Sprößling ins Mäulchen stecken müssen, damit er sich an den Wein gewöhnt.

Hiemit wünsche ich Euch insgesamt fröhliche Weihnacht und ein glückseliges Neujahr!

Herrn Adolphus werde ich bald einmal schreiben; inzwischen danke ich ihm für den Brief aus Gödöllö und namentlich für die Photographie der schönen Dame. Für die wiederholten Geschenke dieser Art (er schickt mir nämlich immer Photographieen von Schönheiten, die er kennen und lieben gelernt hat) werde ich ihm die Stöpsel der Champagnerflaschen sammeln und schicken, die ich habe trinken helfen, um nur einigermaßen das Gegengewicht zu halten.

Befolgen Sie meinen Rat mit den Lutschbeuteln, damit keine Zeit verloren geht und, bis Sie ein zierliches Matrönlein mit weißen Haaren sind, der Sohn ein tapferer ältlicher Weinzapf mit purpurner Nase geworden sein wird, der das Mütterchen ehrt und schätzt und immer noch eins trinkt, wenn er sie nur ansieht. Ich selber saufe leider nicht mehr viel; bleibe wochenlang in meinem Hochsitz abends zu Hause und trinke Tee. Nächstes Jahr habe ich vorläufig vor, meine Schreiberstelle zu quittieren und ganz den sogenannten Musen zu leben. Ich bin nun so alt, daß es nicht mehr so schlimm gehen kann ohne eine solche Philisterversorgung, und die schönen langen Tage und Wochen fangen mich doch an zu schmerzen, wenn ich immer vom Zeug weg ans Geschäft laufen muß.

Wenn ich dann schön Geld verdiene mit meinen herrlichen Werken, so reise ich öfter herum und komme ab und zu nach Wien und schleppe den filium in die Konditoreien und wo es schön ist.

Bis dahin tausend Grüße an alle Empfänglichen und meine Empfehlung dem Herrn Professor consort.

Ihr
G. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe