An Marie von Frisch - Zürich, den 20. Mai 1882.

Verehrtestes gnädiges Frauchen!

Wegen der Mappe haben Sie mich nun etwas beruhigt und meinen Schlaf, der sich um eine Viertelstunde verkürzt hatte, wieder hergestellt, so daß ich bereits über das Ziel hinausschieße und länger schlafe als vorher.


Aber mit der Sommerfrische hat es mir auf die Flinte geschneit, so daß ich nicht schießen kann. Meine Schwester ist seit dem Winter kränklich, und wenn es augenblicklich etwas besser ist, so kann ich sie doch nicht allein lassen, da man nie weiß, wann es wieder schlimmer wird. Sie hat nämlich gewisse Zerbrechlichkeiten in den Pumpschläuchen, die vom Herzen ausgehen, ist blutärmlich und atmungsnotdürftig und so weiter, dazu noch am Halse dick und will noch immer alles selbst machen. Auf den Herbst muß ich ernstlich nach einer näher an der Stadt und nicht so hoch gelegenen Wohnung umsehen; wir laborieren schon zwei Jahre daran; ich habe mich zu nichts entschließen können, weil ich nicht gern etwas nehme, wo man voraussichtlich das Leben auch wieder nicht beschließen kann. Finde ich aber etwas, so geht der Teufel mit den Vorarbeiten des Umzuges an, kurz, es ist nicht geraten, daß ich weggehe. Sie können sich denken, daß ich Eueren lockend freundlichen Vorschlag mit sehr betrübten Augen ansehe und, um ihn zu einer sauren Traube umzuwandeln, mir sage: ›Ei was, am Ende regnets wieder die ganze Zeit in jenen Kalkwänden um den Schafberg herum!‹

Sie Ärmste dauern mich sehr, daß Sie die Diphtheritis in den Kindern hatten, es ist gut, daß es so gut ablief. Ich leide hier auch daran, indem ich einige Befreundete besitze, die noch kleine Kinder haben und wo immer etwas los ist in der schönsten Abwechslung und auch gleichzeitig. Da ist man immer geniert, von einem Haus ins andere zu gehen, um das Gift nicht zu verschleppen und sich argwöhnisch befragen zu lassen. Zuletzt geht man gar nicht mehr in solche Fabriken.

Sonst geht es mir gut, ich bin ganz produktionslustig und habe ordentlich Berg an der Kunkel, altes und neues.

Nun leben Sie recht vergnügt und zufrieden im Gebirge, wenns losgeht. Sollte es im August schön Wetter und die Schwester leidlich gesund sein, wir auch nicht umziehen, so käme ich vielleicht doch auf acht Tage hingeschossen, wobei ich aber einfach ins nächste Wirtshaus ginge und durchaus nichts für mich bereitgehalten werden müßte oder dürfte.

Grüßen Sie alle bestens.

Ihr
G.Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe