An Marie von Frisch - Zürich, Weihnacht 1879.

Verehrte Frau Professorin!

Ich will diesmal Ihnen a tempo antworten, damit es überhaupt geschieht; denn seit einem Jahr habe ich einen förmlichen Briefbankerott gemacht und wickle mich nur langsam aus demselben heraus. Es würde vielleicht auch jetzt noch nicht besser, wenn die Briefe auf diese Art schließlich nicht auch ausbleiben, das heißt die, welche ich bekommen soll, und das würde mir nicht konvenieren. Es ist daher artig von Ihnen, daß Sie mich dennoch mit einem Ihrer Schwalbenschwänze bedacht haben, wie Dilthey Ihre Briefchen nennt, und ich will das Beste versprechen, vorläufig Ihnen und Euch allen anwünschen auf den Jahreswechsel. Dem Adolf will ich schreiben, sobald ich die Zeichnung fertig habe, die ich ihm versprochen. Einige Stunden werden sich wohl endlich finden, sobald ich den dämonischen Simpel, den ›Grünen Heinrich‹ aus dem Hause habe, der mich seit einem Jahr bald melancholisch macht mit der Überarbeitung. Wenn ich auch so eine Menge Zeit verliere, so mag ich doch aus Gewissenhaftigkeit das Malzeug nicht hervorkramen, solang eine verakkordierte Arbeit nicht fertig ist; es ist eine Marotte, aber es ist so; denn ich hätte dabei ein Dutzend Zeichnungen machen können.


Mit Vergnügen vernehme ich, daß Sie mit Mann und Kindern wohlauf sind. Zu demjenigen, was das Adolfsche Paar aufgebracht hat, lasse ich nachträglich Glück wünschen; mein Segen bleibt ihm aufgehoben.

Was mich betrifft, so habe ich einen schlechten Winter zu bestehen seit bald vier Wochen, da unsere Wohnung bei der ungewöhnlichen Kälte, zum ersten Mal seit fünf Jahren, sich als unträtabel erweist und zudem meine Schwester glauben würde, die Welt ginge unter, wenn wir das schone Holz, das im Sommer schon zu diesem Behuf zugefahren wurde, jetzt wirklich aufbrauchen würden. Dafür ist ihr ein Fäßchen Sauerkraut, das sie im Herbste eingemacht hat, zugrunde gegangen, was sie gestern entdeckte, als sie in den Keller ging, um auf heute am Weihnachtstag zum ersten Mal davon zu lochen. Es sei ganz schwarz, sagte sie, und nicht zu brauchen. Ich riet ihr, es im Sommer auf die Bleiche zu legen, vielleicht könne man es spinnen und nachher weben! ...

Sempers Tod wird Euch auch betrübt haben; ich kann mich jetzt noch nicht recht darein finden, wenn ich daran denke, wie oft er einem so unbefangen und anspruchslos nahe gewesen ist, inmitten einer aufgeblasenen Welt.

Leben Sie, versehen mit meinen besten Wünschen, samt Haus und Hof wohl und glücklich ins neue Jahr hinüber, und behalten Sie die wohlwollende Gesinnung gegen Ihren alten

G.Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe