An Marie von Frisch - Zürich, 7. Juni 1889

Verehrte brave Frau Professorin!

Sie haben mich wieder sehr erfreut mit Ihrem Brief vom 3. März, für den ich schönstens danke. Ihre vier Haimonskinder stehen derweil mit andern Freundessachen auf meinem Schreibtisch und sehen zu. Ich wünsche zu allem, was Sie von dem rüstigen Leben der Ihrigen melden, Glück und Fortsetzung!


Daß ich meinem Siebzigertag aus dem Wege gehen will, haben Sie richtig vermutet. Ich gedenke, nachdem ich den Juni in Baden an der Limmat zugebracht haben werde, an einen Kurort am Vierwaldstätter See zu gehen und Luft nebst Wasserkünsten weiter zu genießen und mich dort still zu halten. Ich leide schon an dem Schwindel, indem es Lumpe gibt, die solche Unglückskandidaten schon Monate vorher um Material brandschatzen wollen. Ihr Wolfgangsee wäre ein schöner Schlupfwinkel, aber ich kann nicht so weit reisen, ehe ich von dem permanenten Hexenschuß im Kreuz hergestellt bin, wenn das überhaupt nochgeschieht. Die letzten zwei Jahre konnte ich nichts dagegen tun, weil ich die stets leidende Schwester nicht ganz allein in fremden Händen lassen konnte. Sie starb auf schreckliche Weise an einem Herzklappenfehler. Die letzten acht Tage konnte sie weder liegen noch sitzen noch irgend anlehnen und fand keine Luft mehr. Ich mußte auch lange Nächte aufpassen und in der letzten die ganze Nacht mit der Wärterin dabei stehen und mit den Händen bereit sein, wenn sie in einer Art Verlies, das wir gebaut, mit dem Kopf nach vorn oder seitwärts fallen wollte. Das kam mir kurios vor. Und doch mußte ich später lachen, als sie zur Ruhe war und die Weiber erzählten, wie sie eines Nachts, als die Wärterin, die sie an einer langen Schnur am Beine zu ziehen pflegte, wenn sie etwas bedurfte, im Nebenzimmer eingeschlafen war, mit dem Stock in der Hand sich hinschleppte, sah, daß sie schlief und das Licht ausblies, das sie natürlich bereit hielt. Ein wahrer Holbein! Und sehr liebenswürdig! Ich habe über die Zeit immer mit Heulen zu kämpfen gehabt. Ein Fläschchen Tokayer, das sich bei den schönen Weinflaschen fand, die Ihr mir vor einem Jahre oder so geschenkt, lieferte ihr die letzten Erquickungstropfen aus einem winzigen Gläschen. Von meinem jetzigen Leben will ich jetzt nichts sagen, ich glaub, ich bin reingefallen durch wohltätige Frauen, die alte Mägde gut versorgen wollen.

Sie haben mir, ehe der ›Martin Salander‹ noch fertig war, ein sehr schmeichelhaftes Briefchen geschrieben. Das Bücherbällchen, welches die Freiexemplare der Buchausgabe enthielt, habe ich, nachdem es seit Weihnacht 1886 in einem Winkel gelegen, erst dies Jahr aufgemacht. Sie und Adolf haben die Eurigen auch noch zu beziehen.

Ich weiß nicht, ob Sie schon hinter dem Schafberg sind; jedenfalls wird der Herr Gemahl, den ich schönstens und ehrerbietig grüße, noch in der Josefstädterstraße weilen. Ich hoffe dies Jahr wieder mobiler zu werden im Briefschreiben. 10000 Grüße

Gottfr. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe