An Marie von Frisch - Zürich, 15. Februar 1884.

Verehrte Frau Professor!

Es ist sehr gescheit von Ihnen, daß Sie die saubere Aufführung nicht länger dulden wollen, der ich anheimgefallen, und so hab ich endlich, abends zehn Uhr, mir ein Glas Rotwein zurechtgestellt, eine gute Zigarre angesteckt und fange an zu schreiben. Allein freilich merke ich bereits, daß es mit der Zigarre nicht geht, und schwanke einen Augenblick, ob ich mich nicht lieber wieder hinsetzen und rauchen will; doch die Tugend und Freundschaft siegt, und so bleibt es dabei, daß ich schreibe.


Haben Sie also tausendmal Dank für das Christkindchen, die pompöse Türkenschere, die so spitzig ist, daß man zwei schöne Dolche davon machen könnte. Sie schmückt herrlich meinen Tisch neben dem Falzbeinsäbel Ihres tapfern Bruders. Ich erhielt die Sachen pünktlich am Neujahrsmorgen, als ich beim Frühstück saß und mich freute, daß es kein Spätstück sei; denn ich war in aller Mäßigkeit um zwei Uhr nach Haus gekommen.

Auch für die geschmackvolle Idee, mir ein Tanagrawesen zu schenken, bin ich herzlich dankbar; wenn Sie's aber auch fertig bemalen sollten, so müssen Sie es doch nicht schicken, da dergleichen bei mir nicht fortkommt. Die ›abstaubenden‹ Weibspersonen demolieren dergleichen unerbittlich und brechen alles, was vom Leibe absteht, so daß die armen seinen Ärmchen, Händchen und Füßchen überall in Schächtelchen und Schälchen herumliegen, weil sie mich wegzuwerfen dauern, während die verstümmelten Figuren sich nicht einmal mehr kratzen können, wenn sie's beißt.

Der Grund meines Schweigens war ein schändlicher Haufen von Briefen, die sich zur Beantwortung angesammelt und mich melancholisch machten, so daß ich einfach zu streiken anfing und die Gerechten mit leiden ließ. Ich laboriere jetzt noch daran. Es gibt Leute, die einen gar nichts angehen und sich förmliche Korrespondenzen erzwingen wollen. Das Schönste war vor Weihnachten eine Anzahl Exemplare meiner eigenen Gedichte, die mir zukamen, um je eine Dedikation hineinzuschreiben für die Frau, den Mann, den Onkel und so weiter. Das mußte ich dann wieder verpacken und auf die Post befördern. Einer schickte ein extra schön gebundenes Buch, das ich seiner Frau freundlich widmen sollte, die ich so wenig kannte als ihn selbst. Ich war auf dem Punkte, es Ihnen zu schicken, es war sehr hübsch aussehend, schrieb aber doch eine undeutliche Redensart hinein. Ein anderer hatte die Sache selbst besorgt und mit meinem Namen versehen, es als meine Handschrift ausgebend. Nachher bekam er Furcht, es möchte auskommen und der Friede gestört werden. Er kaufte ein neues Exemplar, und ein Dritter mußte es mir senden und mir den Kasus anvertrauen, damit ich die Sache gutmachte ...

Ihre und des Bruders Exemplare liegen längst bereit, und Sie wissen jetzt, warum mir das Packen verleidet war. Ihr habt aber nicht viel verloren, da es unmöglich ist, in dem monotonen Zeuge lang hintereinander zu lesen. Wenn ich wieder auf die Welt komme, will ich es besser machen, wie ich auch normalere Ohrläppchen mitbringen werde. Ein Bildhauer, der neulich meinen Kopf modellierte, kam der Sache auch auf die Spur und behandelte sie mit großer Aufmerksamkeit, mir mit der Nase immer um die Ohren herumschnaufend. Er ist der erste, der nach Ihnen davon sprach. Allein ich habe auch seit Jahren einen Mondschein hinten auf dem Schädel, den man mir so konsequent verschwiegen hat, daß erst vor einem halben Jahre die Schwester mich darauf brachte, indem sie sagte: »Deine Tonsur fängt nicht übel an, sich auszubreiten.« »Ich weiß ja gar nicht, daß überhaupt ein Anfang da ist!« rief ich. »Ha, schon lang!« Ich nahm zwei Spiegel und erblickte wirklich das Entsetzen.

Sie haben recht, daß Sie sich des Lebens freuen, bleiben Sie gesund mit Mann und Kindern und mir freundlich gesinnt. Wenn ich etwas weiß, schreib ich schon einmal wieder.

Ihr
G. K.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe