An Marie Melos - Zürich, den 19. Juli 1885.

Hochverehrte Freundin!

Im Trubel dieser vergangenen Woche (es war ein dreitägiges Bach- Händel- Fest hier)habe ich richtig versäumt, rechtzeitig an unsern alljährlichen Notenaustausch zu denken; als es mir gestern nachmittag endlich einfiel, war es zu spät, und ich hatte schon ein Telegramm geschrieben, um es heute früh abgehen lassen zu können, als Ihre und Ihrer guten Schwester freundliche Botschaft eintraf, Mrs. Kroeker nicht zu vergessen, so daß ich dreifach beschämt mich ans Lesen machen konnte.


Seien Sie höchlich bedankt und möge Ihnen Ihr lieber himmlischer Herr Vater es im neuen Jahre an nichts fehlen lassen, was zu Ihrem Heile dient, worunter ich indessen nicht etwa Zahnschmerzen oder andere körperliche oder moralische Heilsmaßregeln dieser Art mit verstanden haben möchte. Ich selbst bekomme leider kein Zahnweh mehr, dafür aber allerlei rheumatische Anzüglichkeiten und weiß aus Erfahrung, daß ich dadurch nicht mehr gebessert werde.

Das Telegramm ging heute dennoch erst um halb elf Uhr ab, da ich um zwölfeinhalb Uhr nachts noch in einer Gesellschaft gesessen und, weil der glorreiche 19. Julius einmal angebrochen war, gleich noch auf Ihr Wohl den bewußten Pokal getrunken hatte. Die Freunde glaubten, ich sei ein Verehrer irgendwelcher alter Götter, die längst heimgegangen. Ihren letztjährigen Champagnerstöpsel habe ich seinerzeit richtig erhalten und mit Rührung von allen Seiten betrachtet.

Meine liebe Schwester, der es nicht gut geht, war mit mir über Euere schönen Gaben erfreut und überrascht. Sie dankt sehr und wird das weiße Gestricke beim nächsten kühlen Luftzuge umtun, wenn sie ihre langsamen Spaziergänge auf der benachbarten Promenade macht.

Auf welche Dame Ihre Anspielung geht, wird mir deutlich durch den Namen Maria, den Sie ihr zu geben scheinen und der von einer Fräulein Knopf in Frankfurt a. M. geführt wird. Diese ist allerdings eine wohlwollende Gönnerin meiner Wenigkeit und originelle Korrespondentin; denn sie bringt in ihren Briefen nie mehr als zehn Zeilen zustande, wie sie behauptet, aus Dummheit; es ist aber reine Klugheit, lieber lesen als schreiben zu wollen. Letztes Jahr war eine Frau aus München oder Stuttgart hier, die mit großem Spektakel bei mir einrückte und verkündete, sie habe ein Vierteljahr krank im Bette gelegen und endlich sich an meinem vierbändigen ›Grünen Heinrich‹ gesund gelesen! Worauf sie behende weiter kugelte. Ich stand da, und war versucht, mich einen Augenblick neben Christum zu stellen, der mit einem Sälbchen von Kot den Blinden geheilt hat. Die Sache schien mir aber nicht geheuer zu sein mit meiner Wundertätigkeit, und ich ließ sie auf sich beruhen, ohne mich beim Heiligen Vater um die Seligsprechung zu bewerben. So viel von der Damenverehrung, deren ich, selten genug, teilhaftig werde.

Nun aber gehen Sie gesund und munter in Ihre Sommerfrischen hinaus und stärken sich gründlich für das Jahr 85/86.

Ihr getreulich ergebener
G. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe