An Maria Knopf - Zürich, den 30. Dezember 1885.

Verehrtes Fräulein Marie K.!

Ihre Weihnachtsgüte hat diesmal ein Stückchen Romantik veranlaßt. Ein guter Freund in Frankfurt, den ich letzten Sommer durch Paul Heyse kennen gelernt, ist von Ihrer Gebelaune ergriffen worden und hat mir am Weihnachtsabend ein Kistchen zukommen lassen, das durch einen am Vormittag eingetroffenen Brief angezeigt war. Der gleiche Postbote brachte abends die Kiste mit Ihrem Orangenbäumchen, das ich natürlich ebenfalls dem Herrn zuschrieb. Als ich am Weihnachtstage früh auspackte, wurde ich durch das schöne Bäumchen, das bis auf das letzte Blatt wohl erhalten ist, und seine siebzehn Goldfrüchte so begeistert, daß ich dem Absender die schönsten Komplimente über seinen feinen Geschmack schrieb und darüber vielleicht die schönen Dinge, die er selbst mir geschickt, vernachlässigte, so daß es ohne Zweifel eine Verwirrung absetzte, während das schalkhafte Bäumlein zierlich auf unserm Büfett steht. Einen Tag später kam dann die Schachtel mit Ihrem Brief und Gebäck an meine liebe Schwester und setzte wiederum mich in Verwirrung. Wir danken Ihnen schönstens für alles; die Schwester schreibt außer Waschzetteln und dergleichen nichts mehr, da es ihr nicht mehr recht aus der Feder will, sonst würde sie Ihnen selbst geziemend ihre Gefühle mitteilen, und so muß ich gewohnterweise auch hier wieder den Schreibknecht machen, was ich gern und von Herzen tue. Die Lebensregeln für das Bäumchen wollen wir so gut als möglich befolgen und hoffen, es so alt werden zu lassen, als wir selbst noch ausdauern, besonders, da es nur Wasser und keinen Wein trinkt. Wir wünschen nun Ihnen, dem Herrn Papa und Fräulein B. einen fröhlichen Jahreswechsel und Glück und Heil zum kommenden Jahr. Für den Fall, daß Sie die ›Deutsche Rundschau‹ noch nicht zu Hause haben, schicke ich Ihnen einen Separatabdruck des Anfangs meines Romans, der mir aber mager vorkommt. Es sollte besser kommen, wenn möglich.


Ihr dankbar ergebener
G. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe