An Ludmilla Assing - Nichte Varnhagens von Ense, in dessen Haus Keller in Berlin verkehrt hatte. - Zürich, 8. Juni 1870

Verehrtes Fräulein Assing!

In einer langweiligen Regierungssitzung, in welcher stundenlang debattiert wird, finde ich endlich die Gelegenheit, meiner Sünden zu denken, und da fällt mir vor allem meine beinahe zweijährige Briefschuld aufs Gewissen, die mich Ihnen gegenüber drückt. Wie Sie an diesem Eingang sowie am Papier wahrnehmen können, befinde ich mich ungeachtet der vorübergegangenen Staatsveränderung unseres Republikwesens immer noch in meinem Amte; ich sitze zur Stunde an meinem alten Platz auf dem Rathause; aber seit einem Jahre sieben neue Regierungsmänner um mich her, da alle alten, meine Freunde, durch Volkswahl beseitigt wurden...


Neulich habe ich einen im Herbst 1868 für Sie angefangenen Brief aufgefunden, der unter Schichten von Akten, die sich in diesen stürmischen zwei Jahren gesammelt, vergraben und meinem Gesichte entzogen worden war. Er beginnt, wie alle meine Episteln an Sie, mit Dankesvariationen über die literarischen Zusendungen, Fortsetzungen der Tagebücher und so weiter; ich kann jetzt, da ich mich nicht zu Hause befinde, gar nicht alles aufzählen und mich auch nicht in eine nähere Betrachtung und Würdigung des einzelnen einlassen. Empfangen Sie also mit altem Wohlwollen meinen kurzen Dank für alles...

Verfolgen Sie auch noch ein bißchen die deutsche Literatur? Es ist alles aus Rand und Band, und hundert Talente und Talentchen treiben sich auf offener See herum; aber ich glaube, es wird sich etwa in den nächsten zwanzig Jahren wieder etwas Besseres kristallisieren, da dann doch etwa hundert Jahre seit dem letzten Mal verflogen sind...

In neuerer Zeit lebe ich endlich wieder einmal mehr für meine Person, lese viel und schreibe allmählich wieder. Ich durchgehe alte Manuskripte, mache sogar Verse, kurz, ich übe mich vorsichtiglich, aber behaglich ein, heut oder morgen wieder ein freier Schriftbeflissener zu werden, da mich die Jahre doch zu dauern anfangen, die so dahingehen.

Die Diskussion über eine praktische Steuerschraube, welche meine VII Tyrannen soeben fabrizieren, geht nun zu Ende und damit auch die Zeit, welche ich für diese wenigen Zeilen fand, welche nichts Interessantes oder Schönes enthalten werden, aber Sie wenigstens überzeugen sollen, daß ich schon länger auf einen Augenblick gelauert habe, meiner Pflicht zu genügen...

Leben Sie nun bis auf weiteres wohl, verehrtestes Fräulein, und bleiben Sie nicht ungewogen

Ihrem ergebenen
G. Keller.

NB. Fast hätt ich vergessen: Sie können mir auf der Adresse Doktor schreiben, da ich letztes Jahr, als ich 50 Jahr! alt wurde, einen solchen Spitznamen bekommen habe.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe