An I. Schweizer-Labhart - Der Adressat hatte den Dichter um ein Urteil über die Gedichte seines Sohnes gebeten. - Zürich, den 4. November 1885

Hochgeehrter Herr!

Ich kann Ihnen mit wenig Worten meine Ansicht von der Angelegenheit Ihres Sohnes nicht tiefer begründen, was auch nicht notwendig ist; so gut möglich, will ich Ihnen wiederholen, was ich ihm heute, als er seine Gedichtbände abholte, gesagt habe.


Die Gedichte verraten ein entschiedenes Talent, sich in poetischen Formen zu bewegen, und die in großer Zahl in so kurzer Zeit hervorgebrachten Gedichte beurkunden einen warmen Trieb, eine gewisse Leidenschaftlichkeit, es zu tun.

Das Alter jedoch, in welchem der Jüngling steht, läßt über seine Zukunft nur so viel sagen, daß er sich für eine wissenschaftliche oder literarische Laufbahn eignen wird; der Inhalt der Gedichte aber ist noch so beschränkt und dürftig, wie es bei dem Mangel an Erfahrung und Anschauung nicht anders sein kann, daß sich Bestimmteres gar nicht sagen läßt. Es ist möglich, daß er selbst in wenigen Jahren über seine poetischen Versuche hinwegsieht.

In allen Fällen aber kann er in seiner Lage nichts Besseres tun, als seine Gymnasialbildung gründlich vollenden, und wenn er ein Dichter werden, das heißt als ein solcher seine Lebenshoffnung erfüllen will, so hat er es doppelt notwendig.

Wenn er jetzt aus der Schule wegläuft, so verhindert er sich selbst, später, wenn seine Einsicht sich geändert hat, das Examen zur Aufnahme in eine Hochschule zu bestehen. Und wenn er zugleich auch in kein Bureau oder Werkstatt eintritt, so lernt er überhaupt nicht geregelt arbeiten, und daraus entstehen nicht Dichter, sondern literarische unglückliche Bummler. Nur etwa dann und wann ein Genie überwindet das. Und über das Vorhandensein von wirklichem Genie auf fraglichem Gebiet wage ich keinen Ausspruch zu tun. Aber wäre es vorhanden, auch dann heißt es vor allem auslernen und wieder lernen, und zwar nicht nur Verse machen, sondern alles, was die Welt zu lernen heischt und gibt.

Es ist hiebei nicht genug zu wiederholen, daß es in dem Alter von achtzehn Jahren mit dem Ausüben der Dichtkunst keine Eile hat und daß alle wirklichen Dichter zu vertilgen pflegen, was sie in diesem Alter gemacht haben, - daß anderseits dies das Alter ist, wo am meisten Unwiederbringliches versäumt oder verdorben wird.

Bei alledem muß ich darauf hinweisen, daß ich im übrigen die psychischen respektive moralischen inneren Eigenschaften Ihres Sohnes, welche diese oder jene Ausnahme begründen mögen, nicht kenne.

Ihr ergebenster
G.Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe