An Eduard Münch in Neuyork - Münch, von Beruf Kupferdrucker, ein Jugendfreund Kellers, war 1854 nach Amerika ausgewandert. - Enge-Zürich, den 12. Oktober 1879.

Lieber alter Freund!

Immer mit Buchschreiben beschäftigt (das ich aber nicht mit Dampf betreibe), bin ich dies Jahr mit allen meinen Briefen in Rückstand geraten und habe auch Dich über Gebühr warten lassen, obgleich die Schwester oft genug gemahnt hat. Deine Briefe und Photographieen haben wir jedesmal mit Dank erhalten, und das um so herzlicher, als uns allmählich alles entschwindet, was wir in der Jugend gekannt haben. Wir haben auch mit Befriedigung erfahren, daß es Dir mit den Deinigen wohl ergeht und Du gesund und munter bist.


Unsere Mutter ist im Jahre 1864. gestorben, siebenundsiebzig Jahr alt, in der Zürcher Staatskanzlei, wo wir unsere Wohnung hatten. Im Jahr 1876 habe ich nach fünfzehnjähriger Besorgung des Amtes die Stelle aufgegeben, um noch einige Jahre lediglich der Literatur widmen zu können, die uns jetzt bequem erhält. Leider werden wir den vollen Nutzen des ›Gewerbes‹ kaum noch selbst genießen können. Doch wenn ich vor der Regula sterbe, so kann sie jedenfalls existieren, solange sie noch lebt, sei es durch den Gesamtverkauf meiner Sachen oder durch eine zu stipulierende Jahresrente. An Verlegern fehlt es mir nicht. Längst hätte ich Dir einige meiner Bücher geschickt, wenn ich nicht gedacht hätte, der Zoll würde Dich mehr kosten, als sie wert sind. Jüngst habe ich aber gelesen, daß eine Erleichterung eingetreten sei durch den Weltpostvertrag und in Amerika Bücher als Kreuzbandsendungen gleich den übrigen Sendungen dieser Art zollfrei sein sollen. Sobald ich dessen sicher bin, werde ich Dir die Sachen stückweise so zuschicken. Ein verschlossenes Paket müßte immer noch verzollt werden.

Ich bin leider dick und rund, sonst aber gesund; Regula dagegen ist nicht am stärksten. Sie leidet etwas an Blutarmut und infolge früheren dicken Halses, der sich nach innen gezogen hat, an zunehmender Verengerung der Halsröhre, was ihr jetzt beim Treppensteigen schon Atemnot verursacht und noch gefährlicher werden kann.

Die Mutter ist auch an diesem Übel gestorben. Ich selbst werde meiner Komplexion nach die Wassersucht bekommen oder ein Schläglein erwischen. Übrigens besorgt die Schwester noch alle Hausgeschäfte und läuft auch selbst auf den Markt. Wir wohnen auf einer Anhöhe, dem sogenannten Bürgli, in Enge, zwanzig Minuten von der Stadt, ganz allein in einer geräumigen Wohnung von sechs Zimmern mit prächtiger Aussicht ringsum. Ich habe an meinem Arbeitstische den ganzen See mit Gebirge vor mir, sehe über die Stadt hinweg. Gegen Baden hinunter, in das Sihltal und an den Ütliberg hinüber sieht man von den andern Fenstern aus. Wir zanken zuweilen über die Häuslichkeiten. Regula will keine Dienstboten leiden, und doch ermüdet sie die Sache zu sehr, und kann es jedenfalls nicht lange mehr so fortgehen. Neulich hatte sie ein schönes Stück Arbeit. Meine Freunde hatten zur Feier meines sechzigsten Geburtstages ein üppiges Mittagessen in einem Gasthause veranstaltet, das von zwei Uhr bis um zehn Uhr abends dauerte. Die ganze Gesellschaft, jung und alt, achtzehn Mann, war schließlich besoffen. Ich fuhr als der allerletzte nach Haus und verschmähte jede Begleitung. Als ich aber am Fuße unseres Hügels ausstieg, regnete es in Strömen, und ich purzelte auf dem kurzen Wege bis zum Haus drei- oder viermal in den Dreck, so daß die Regula den Rock auswaschen und herstellen mußte und fortwährend schimpfte: ich hätte nicht den besten anzuziehen gebraucht. Da hast Du ein kleines Bildchen unserer Lebensart ...

So viel für einmal. Wenn ich die Bücher schicke, will ich wieder schreiben, was Du auch tun kannst. Die Briefe sind jetzt ja wohlfeil. Regula grüßt bestens; sie schreibt so wenig als möglich, da sie's nie so recht gelernt hat.

Also sei mit den Deinen gegrüßt von

G.Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe