Heidelberg, den 8. Februar 1849.

Lieber Dößekel!

Ich habe zwar die Schweiz und Euch Einwohner nicht vergessen, doch bin ich seit meinem Hiersein solchermaßen in eine neue Bahn geworfen worden, daß ich mich auch jetzt noch förmlich zusammenraffen muß, um endlich nur einigermaßen meine Pflicht gegen meine heimatlichen Freunde zu erfüllen; denn wer unerwartet auf einem neuen, aber noch nicht ganz sichern und bestimmten Wege wandelt, an dessen Ziele aber eine klare, heitere Aussicht zu hoffen ist: der schaut nur höchst ungern zurück und hat kaum Lust, seine frisch angeknüpften Fäden auch rückwärts zu reichen, seine neu empfangene Parole auch rückwärts zu rufen, ehe er weiß, wie sie dort aufgenommen werden, ehe er auch die ganze Geschichte und Entwicklung zugleich mitgeben kann. Ich hatte in Zürich so viel als versprochen, hier vorzüglich Geschichte zu treiben, und nun bin ich fast ausschließlich in die Philosophie hineingeraten.


Fast zufällig besuchte ich einmal Henles Vorlesung über Anthropologie; der klare, schöne Vortrag und die philosophische Auffassung fesselten mich, ich ging nun in alle Stunden und gewann zum ersten Mal ein deutliches Bild des physischen Menschen, ziemlich von der Höhe des jetzigen wissenschaftlichen Standpunktes. Besonders das Nervensystem behandelte Henle so geistreich und tief und anregend, daß die gewonnenen Einsichten die beste Grundlage oder vielmehr Einleitung zu dem philosophischen Treiben abgeben. Ein aufgeweckter junger Dozent, Dr. Hettner, auch vorzüglicher Literarhistoriker und Ästhetiker, las über Spinoza und die aus ihm hervorgegangene neue Philosophie bis auf heute. Endlich kam noch Ludwig Feuerbach nach Heidelberg und liest hier auf ergangene Einladung öffentlich über Religionsphilosophie. Bald kam ich persönlich mit Feuerbach zusammen, sein tüchtiges Wesen zog mich an, und machte mich unbefangener für seine Lehre und so wird es kommen, daß ich in gewissen Dingen verändert zurückkehren werde. Ich habe keine Lust, jetzt schon schriftlich eine Art von Rechenschaft abzulegen. Nur so viel: wenn es nicht töricht wäre, seinen geistigen Entwicklungsgang bereuen und nicht begreifen zu wollen, so würde ich tief beklagen, daß ich nicht schon vor Jahren auf ein geregelteres Denken und größere geistige Tätigkeit geführt und so vor vielem gedankenlosem Geschwätze bewahrt worden bin.

Für die poetische Tätigkeit aber glaube ich neue Aussichten und Grundlagen gewonnen zu haben, denn erst jetzt fange ich an, Natur und Mensch so recht zu packen und zu fühlen, und wenn Feuerbach weiter nichts getan hätte, als daß er uns von der Unpoesie der spekulativen Theologie und Philosophie erlöste, so wäre das schon ungeheuer viel. Übrigens bin ich noch mitten im Prozesse begriffen und fange bereits an, vieles für meine Individualität so auf meine Weise zu verarbeiten. Komisch ist es, daß ich kurz vor meiner Abreise aus der Schweiz noch über Feuerbach den Stab gebrochen hatte als ein oberflächlicher und unwissender Leser und Lümmel; so bin ich recht aus einem Saulus ein Paulus geworden. Indessen kann ich doch für die Zukunft noch nichts verschwören; es bleibt mir noch zu vieles durchzuarbeiten übrig; aber ich bin froh, endlich eine bestimmte und energische philosophische Anschauung zu haben. Nebenbei treibe ich noch Literaturgeschichte und arbeite an meinem unglückseligen Romane, welchen ich, da ich einen ganz andern Standpunkt und Abschluß meines bisherigen Lebens gewonnen habe, erst wieder zu zwei Dritteln umschmelzen muß. Wenn der Sommer schön wird in dieser schönen Landschaft, so werde ich ein Schauspiel darin schreiben, das mir durch den Kopf geht. Was nächsten Winter aus mir wird, kann ich noch nicht sagen, jedenfalls gehe ich nicht nach dem Orient; ich habe mehr Lust in Deutschland zu bleiben; denn, wenn die Deutschen immer noch Esel sind in ihrer Politik, so bekommen mir ihre literarischen Elemente um so besser.

Ich habe mehrere ganz angenehme Bekanntschaften gemacht hier, worunter auch Künstler, einige hübsche und gescheite Mädchen stehen für den nahenden Frühling zu poetischen Ausflügen in Aussicht. - Begnüge Dich einstweilen mit diesen paar ungeschlachten Brocken und berichte mir doch bald von Deiner Seite, denn ich habe einen wahren Heißhunger nach Briefen aus der Schweiz. Ich habe erst einen einzigen an meine Mutter geschickt, und zwei von ihr erhalten; sonst ist kein Sterbenswörtchen zwischen mir und dem Vaterlande gewechselt worden. Ich bin zum großen Ärger der Deutschen oft bei meinen jungen Landsleuten, den Schweizerstudenten; denn unser Nationalismus ist allen, den reaktionären wie den radikalen, ein Dorn im Auge. Ich werde aber diese sogenannte Borniertheit wohl lebenslänglich behalten; hier stehe ich auf eignen, festen Füßen und kann mir die Theorie selbst machen.

Ich erinnere mich oft mit großem Vergnügen an den Aufenthalt in Deiner reizenden Wohnung. Grüße doch höflichst von mir Deine werte Frau und küsse Deine Kinder...

So lebe gesund und wohl bis auf weiteres!

Dein
Gottfr. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe