Berlin, September 1851.

Lieber Freund!

...Ich ersehe aus Deinem Briefe, den ich wieder hervorgesucht, daß Du behaglich und sicher gestellt bist und lebst. Um so eher wünsche ich, daß nun auch bald die Erfüllung Deiner höheren Interessen hinzutritt... Ich habe in Berlin die Gelegenheit benutzt und habe viele Konzerte besucht, allein mein musikalisches Urteil ist noch ziemlich auf dem alten Punkte, da ich seither keinen Umgang mit Musikern hatte. Hingegen bildende Künstler lernte ich sehr tüchtige kennen, und erfreue mich ihres Umganges. Die Oper mußte ich leider vernachlässigen, da ich mein Geld auf den häufigen Besuch des Schauspieles verwenden muß, so habe ich weder den ›Propheten‹ [Fußnote]Von Meyerbeer (1849) noch irgend ein anderes Stück der Neuzeit gesehen und beschränkte mich darauf, die berühmtesten alten Sachen von Gluck und Mozart kennen zu lernen. Im Schauspiel aber habe ich, begünstigt durch die Marotten der hiesigen Herren, der Reihe nach alle Dichtungen von Shakespeare, Goethe, Schiller und viel französisches Lustspiel aufführen gesehen, was meiner Erfahrung zugute kam, so wie ich ausgezeichnete Gäste sah, und mit der Rachel, die zweimal hier war, das französische Wesen und zugleich eine geniale Gestalt studieren konnte. Die Berliner Schauspieler sind ohne Genie und bewegen sich, mit seltenen Ausnahmen, in langweilig anständiger Mittelmäßigkeit. Doch sind sie in der Komödie noch ganz gut gebräuchlich. Es ist mir von der Intendanz aus erst jetzt ein Freibillett angeboten worden als einem strebenden Jüngling, allein ich nahm es nicht mehr an, da ich doch öfter hingehen müßte und ich gerade jetzt nicht mehr Zeit habe, und mit meinen eigenen Produkten zu sehr beschäftigt bin. Ich habe eine mäßige Reihe von Stoffen, sowohl komische wie tragische, die ich durchführen will. Doch sind diese Sachen nicht das, was ich für das Absolute, auch in Hinsicht meiner persönlichen Verhältnisse, halte, vielmehr betrachte ich sie für eine Übergangstätigkeit oder einen Anfang, da einerseits ich selbst noch nicht bei der höchsten Erfahrung, deren ich mich fähig glaube, angelangt bin, und man andrerseits nicht wissen kann, welche Forderungen die kommenden Jahre durch ihre geschichtliche wie wissenschaftliche Entwicklung, beide nicht vorauszusehen, aufstellen werden. Inzwischen habe ich mir die größte Einfachheit und Klarheit zum Prinzip gemacht; keine Intrige und Verwicklung, kein Zufall usf., sondern das reine Aufeinanderwirken menschlicher Leidenschaften und innerlich notwendige Konflikte; dabei möglichst vollkommene Übersicht und Voraussicht des Zuschauers alles dessen, was kommt und wie es kommt; denn nur hierin besteht ein wahrer und edler Genuß für ihn.


Berlin hat mir viel genützt, obgleich ich es nicht liebe; denn das Volk ist mir zuwider. Im Winter frequentierte ich einige Zirkel, z.B. den der Fanny Lewald; fand aber das Treiben und Gebaren der Leute so unangenehm und trivial, daß ich bald wieder wegblieb. Hingegen gibt es treffliche Leute, die im Stillen leben und nicht viel Geräusch machen, sowie auch überhaupt hier einem immer etwas anfliegt, was man in den kleinen Städten Deutschlands nicht hat. Ein reger geistiger Verkehr, mag er noch so verkehrt sein, regt den einzelnen immer vorteilhaft an. Doch sehne ich mich recht herzlich einmal nach Hause und wünsche Berlin zum Teufel. Besonders die vielen Festtage des vergangenen Sommers im Vaterlande haben mir oft Heimweh gemacht.

Ich würde bei dieser Gelegenheit gern meine Gedichte und Roman mitschicken, allein ich habe sie nicht und weiß nicht, warum der Verleger sie nicht schickt. Von letzterem besitze ich nur den ersten und zweiten Teil und will daher noch warten. Ich lege einige Fetzen der Gedichte bei, die gerade bei der Hand sind. Doch wie gesagt, es sind alte Sachen, und ich bin mit vielen Schmerzen ein ganz anderer Mensch und Literat geworden, als dort ersichtlich. Ich mußte die frühere Gedankenlosigkeit und Faulheit büßen, besonders die Zeit, die ich in Zürich verlümmelt habe. Doch war auch meine Isolierung viel schuld, denn es galt in Zürich nicht für guten Ton, literarische und poetische Bestrebungen gründlich und wohlwollend zu durchsprechen...

Grüße mir alle Bekannten...

Wenn Du trotz meiner Felonie mir doch wieder schreiben willst, so tue es bald, da ich nicht weiß, wie lange ich noch in meiner jetzigen Wohnung oder überhaupt in Berlin bleibe. Mit tausend Grüßen Dein alter

Gottfr. Keller.
Mohrenstr. 6.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe