Worin besteht der Wert des Plattdeutschen für die Gesamtsprache und die ganze Nation.

Statt dessen wollen wir, da es noch lebt, den Wert des Plattdeutschen für die Gesamtsprache und die ganze Nation, und die Berechtigung unseres Strebens für seine Erhaltung näher begründen. — Darüber muss ich etwas weiter ausholen.

Mit der politischen Einheit Deutschlands hat die Sprache gar nichts zu tun, diese Einheit wird durch ganz andere Mächte gestört oder erhalten. Es ist Frankreich ganz gleichgültig, ob das Elsass deutsch spricht, wenn es nur französisch ist, und das ist es leider aus dem Grunde. Wer Angesichts solcher Tatsachen, wer im Anblick des Elsass, der Schweiz, der Ostseeprovinzen, die alle deutsch und alle nicht unser sind, von der deutschen Sprache als der bindenden Macht redet, die Deutschland zusammenhalten soll, der ist vernünftigen Gründen gar nicht mehr zugänglich. Und ob auch Tausende behaupten die Sprache sei das Band unserer Einigung, so weise ich sie hin auf die verlorenen deutschen Lande und frage, warum sie nicht mit im Band und Bunde sind? Es scheint, dass der lebhafte Wunsch nach einem großen und schönen Ziel förmlich blind macht. Man phantasiert sich Hilfe und Mittel, wo gar keine zu finden sind.


Die Sprache ist gar keine reale Macht. Wales ist so englisch wie nur eine Provinz, es ist das Herz von England, und doch ist die Volkssprache dort nicht das Englische, ja eine ausgebreitete Wallisische Literatur führt ihr abgesondertes Leben für sich; Frankreich hat die Zentralisation bis zum Extrem getrieben, und doch leben in Frankreich so viele Mundarten als fast in Deutschland. Der Bauer aus der Bretagne versteht kaum den aus der Normandie, den Provençalen schon gar nicht. Jede andere materielle Gemeinschaft ist staatlich bindender als die Sprache z. B. gleiche Erbgesetze, Wechselrechte etc.; Pass- und Zollordnungen trennen schärfer als die Dialekte, mehr noch scheiden Ungleichheiten in Sitten und Gebräuchen, besonders in der Religionsübung. Sogar die Verschiedenheit der Nahrungsmittel setzt sich der Einigung entgegen. Wo der Norddeutsche sein duftiges Schwarzbrot und seine süße Butter nicht findet, der Bayer nicht sein klares Bier, da ist nicht so recht ihre Heimat. Und wie viele von den 30 Millionen Deutschen bewegen sich denn so weit vom Platze um aus eigner Anschauung die Einheit oder Verschiedenheit der Sprache zu empfinden, an der Sprache zu fühlen wie weit Deutschland reicht? Zur Bequemlichkeit einiger Reisenden scheint es uns doch kaum nötig, dass wir 9 Millionen Plattdeutsche unsere Muttersprache ändern.

Die Idee unserer Zusammengehörigkeit liegt tiefer als dies, sie hat einen durchaus ethischen Grund. Soweit diese ethische Gleichartigkeit sich äußerlich in Sprache und Literatur ausprägen kann, ist es in unserer Schriftsprache geschehen. Natürlich wäre es ein Unglück diese einzubüßen. Aber das ist so unmöglich, wie dass wir mongolisches Blut in unsere Adern bekämen. Es ist demnach nichts zu befürchten, auch wir Plattdeutsche werden deutsch bleiben, selbst wenn wir unsere Sprache lieben und ehren und für ihre Erhaltung Sorge tragen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch