Wer weiß nicht, was Dialekt, was Mundart bezeichnet?

Bevor wir in unserer Untersuchung weiter gehen, müssen wir uns über ein paar Ausdrücke verständigen, die uns dabei immer in den Weg kommen, uns verwirren werden — wie sie schon manchen verwirrt haben — wenn wir über ihre Bedeutung nicht klar und einig sind: ich meine die Ausdrücke Dialekt, Mundart. Diese Ausdrücke gehören zu den vielgebrauchten, denen man allenthalben begegnet: im Gespräch mit Reisenden, in Zeitungen, in kritischen Blättern, in Bücherverzeichnissen. Man sammelt die Mundarten Deutschlands, nächstens auch Frankreichs, und spricht davon, wie von einem Nationalunternehmen bestimmt die Ehre des ganzen Volksstammes zu wahren.

Man spricht viel von Dialektforschung, es erscheint eine eigene Zeitschrift: „Deutschlands Mundarten, eine Monatsschrift für Dichtung, Forschung und Kritik”, und wo nur für oder wider des Plattdeutschen gedacht wird, da kann man sicher sein die Ausdrücke Dialekt Mundart zu vernehmen. Es sind also coulante Ausdrücke geworden, aber nicht bloß coulante sondern auch prägnante, bedeutungsschwere, Ausdrücke mit denen man nicht bloß eine Sache bezeichnet, sondern zugleich ein Interesse aufruft, ein Urteil abgibt, Wert und Würde der Sache bestimmt. Ein Buch in hochdeutscher Sprache, in französischer Sprache kann alles Mögliche erhalten, kann gut oder schlecht, platt oder erhaben sein, a priori weiß man nichts darüber als dass es französisch oder hochdeutsch geschrieben ist, man muss das Buch erst lesen, ehe man es versteht, man muss die Sprache verstehen, ehe man es lesen kann. Bei einem Buche in plattdeutscher Mundart wäre das alles anders. Man würde auch ohne die Sprache zu verstehen und ohne das Buch zu kennen im Voraus wissen, in welcher Sphäre es entstanden sein muss, in welche Sphäre es hineingehört. Hochdeutsche Gedichte sind eben hochdeutsche Gedichte, wenn sie nicht von Heine oder Uhland sind, es können Oden oder Gassenhauer sein: aber Gedichte in plattdeutscher Mundart müssen nach dem Kuhstall riechen, das ist Selbstverstand, und jede Ode unter ihnen wäre eine Sünde wider Apollo. Woher kommt das? Hat es einen vernünftigen Grund? Hat es einen Grund, wenn die Kritik jetzt die Muse des Quickborn für eine verkappte Hochdeutsche erklärt, man habe sich täuschen lassen, sie sei zu vornehm um plattdeutsch zu sein, und Fritz Reuters Muse laut für die echte plattdeutsche, ausdrücklich weil sie einer Viehmagd gleiche? Oder wenn man auf der andern Seite von den Volksmundarten wie von Nationalschätzen spricht, welche Dichtung, Forschung und Kritik zu wahren und zu mehren haben: sollen wir beistimmen und helfen?


Die Ausdrücke Dialekt/Mundart sind also zu Schlagwörtern geworden, die nicht bloß treffen, sondern auch schneiden sollen. Beim Gebrauch solcher Wörter muss man vorsichtig sein. Wir kennen sie aus der Politik her, wo die „breiteste Basis” und andere alles Mögliche bezeichneten, von den Parteien bald als ja bald als nein gebraucht wurden. Auf einem Gymnasium wird gelehrt, das Plattdeutsche sei eine bloße Mundart, keine wirkliche Sprache. In solchem Sinne bezeichnet Mundart gar keine Sache mehr, sondern nur die Gesinnung des Sprechenden, und bedeutet! wir mögen das Plattdeutsche nicht. Zu einem solchen Schlagworte ist das Wort allerdings ganz geeignet, es ist so klar und zugleich so vieldeutig, dass es jeder verstehen kann und jeder in seinem Sinn anders. Wer weiß nicht, was Dialekt, was Mundart bezeichnet? Z. B. der schwäbische Dialekt ist die Mundart, welche die Schwaben sprechen. Allein wenn es heißt, dass Schiller sein Leben lang den schwäbischen Dialekt nicht überwinden konnte, so bedeutet Dialekt bloß die besondere Aussprache einiger Laute und Lautverbindungen, und Niemand wird in Schillers wunderbarer Sprache den Schwaben erkennen wollen. In solchem Sinn mag man noch von der vergnügten Mundart der Enten reden oder mit dem Soldaten von der groben Mundart der Kanonen.

Abgesehen von dieser Bedeutung würde in einem Wörterbuch, wie das der Gebrüder Grimm, das den Wortschatz der Deutschen aus dem Sprachgebrauch zusammenstellt, der Artikel Mundart etwa folgende Gestalt annehmen: Mundart ist die Sprache ohne Schrift, die bloß gesprochene Sprache die nur noch im mündlichen Verkehr umgeht, die Sprache ohne Literatur, ohne Kultur, die rohe, platte, gemeine Sprache, das Patois, die Sprache der niederen Volksklassen, die Bauernsprache, das Kauderwelsch, die Sprache ohne Grammatik, ohne Regel, die wilde, naturwüchsige, die unverdorbene Sprache. — Dies mag für ein Wörterbuch, mit passenden Beispielen belegt, eine ganz interessante Zusammenstellung geben, aber zum wissenschaftlichen Gebrauch, das sehen Sie, ist ein solches Wort ganz ungeeignet, mit einem Gegner kann man sich dadurch nicht auseinandersetzen, man weiß nie, was er meint, er appliziert eine Ohrfeige, wo man glaubt, dass er einem die Hand darreiche. Und doch muss man über diese Sache sich klar werden, schon der Eifer, mit dem gesprochen wird, zeigt die Wichtigkeit derselben. Man muss daher zunächst den Sachgehalt in den Hauptbegriffen von den leidenschaftlichen Beimischungen sondern, um dann ruhig weiter zu untersuchen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch