Kürze und Wohllaut zeichnet das Plattdeutsche vor ihrer Schwester aus.

Ein zweiter Vorteil des Plattdeutschen als Mundart entsteht ihm daraus, dass es sich von schleppenden Endungen befreit hat. Der schlagende Beweis liegt am Holländischen vor, dem einzigen plattdeutschen Sprachstamm mit einer alten Literatur. Dass dem Plattdeutschen ohne Ausnahme diese seine nächstverwandte Mundart zuwider ist, dass sie ihm gravitätisch und pedantisch erscheint, rührt hauptsächlich daher, dass das Holländische zu einer Zeit schriftlich gefesselt worden, als der Auflösungsprozess, den alle Sprachen vom synthetischen zum analytischen Bau scheinen durchmachen zu müssen (dem Griechischen und Lateinischen ist es ebenso ergangen) noch nicht vollendet war.
Lieve Doris! gintsche (jene) Sterren —
Aan des Hemels blaauw Azuur —
Toonen (zeigen) ons, mit silvre Glanzen —
't Beeld des Scheppers der Natuur,
.. Kniel eerbiedig voor hem neder! —

Dies klingt uns wie hochdeutsch mit plattdeutschen Worten. Und in der Tat ist das Hochdeutsche auf derselben Stufe der Entwicklung durch Schrift und Orthographie gefesselt worden, hat einen ähnlichen pedantischen Schnitt und Schritt, den wir nur aus Gewöhnung nicht empfinden. Das tonlose e in allen seinen Verbindungen, die Konjugationsendungen besonders der schwachen s. g. regelmäßigen Konjugation, das e est et en te test tet ten, das e er en der Kasusformen, das Augment ge stammen daher. Sie sind die verblassten Formen früherer voller Endungen mit a ai u o etc. Das Plattdeutsche, ungehemmt durch Schrift und Druck, hat den natürlichen Prozess der Auflösung vollendet und diese toten Silben meistens abgeworfen. Z. B. die Briefe sind gekommen, de Brev sünd kam, der Bote ist wieder fortgegangen, de Bad is wedder weggan.
Kürze einer Sprache ist kein absolutes Lob, aber Kürze und Wohllaut zugleich ist ein großes, oft ist ein Ausspruch, der für poetisch gilt, dies nur durch Klang und Prägnanz. Jene tonlosen Endungen aber, so wenig sie jetzt mehr verschwinden können, sind ohne Klang und Sang, ahn Smack un Klack, ohne Takt und Rhythmus, ein wahrer toter Ballast der hochdeutschen Sprache. Sie bedeuten nichts, sie machen die Sprache nicht bestimmter, man ist im Plattdeutschen nicht etwa je zweifelhaft über Sinn und Bedeutung, sie sind bloß da und nicht auszumerzen. Aber wenn durch irgend etwas, wird durch sie das Tonlose, Klanglose, das Schleppende und Pedantische erzeugt, das man dem Hochdeutschen vorwerfen muss. Kürze und Wohllaut zeichnet das Plattdeutsche vor ihrer Schwester aus.
Wenn die Kürze des Englischen Jacob Grimm hauptsächlich zu dem begeisterten Lobe stimmt, wonach er es für die vollkommenste Sprache des indogermanischen Stammes erklärt: so macht die plattdeutsche Sprache zugleich noch auf eine andere Vollkommenheit Anspruch, die jener nicht in dem Maße zuzusprechen ist. Ihr Wohllaut beruhet nicht bloß auf der Prägnanz, nicht bloß darin, dass ihr die schleppenden klanglosen Endungen fehlen, sie hat noch einen besonderen in ihrem Vokalismus und Konsonantismus, auf den ich Sie aufmerksam mache. Ihre Vokaltonleiter hat einen größeren Umfang, der Abstand zwischen a und i ist z.B. größer als im Hochdeutschen, und das schöne tiefe œ, so zeichnend z. B. in drœhnen schœln (abspülen) fehlt der Schriftsprache. Dieses a und œ sind keine unreinen Laute, nicht etwa roh dem höherliegenden a des Hochdeutschen gegenüber, so wenig wie der Bass gegen den Discant roh oder unrein ist, so wenig wie das schwedische å, das englische water, das portugiesische Camoëns unrein ist. Wenn man diese Laute Hochdeutschen so beschreibt, dass man etwa sagt, a habe einen Ton zwischen a und o, œ einen Ton der zwischen ö und ä liegt, so bezeichnet das nicht einen trüben Mittelton, sondern die reine Lautstufe zwischen beiden; die Unvollkommenheit ist auf Seite des Hochdeutschen, das diese Töne nicht hat und daher nur ungefähr umschreiben kann.
Dazu kommt die ältere konsonantische Lautstufe des Plattdeutschen, aus der ich nur für Sie das eine wieder herausheben will, dass das schöne t des früheren Deutsch dem Plattdeutschen geblieben, im Hochdeutschen sich in den Zischlaut z und ß verwandelt hat, z. B. Ik weet dat Teken vun dat witte Perd ist absolut wohllautender als: Ich weiß das Zeichen des weißen Pferdes. Die Zischlaute und die toten Endungen mit e sind wie Schnürleib und falsche Zähne dem Gesang der Schriftsprache unüberwindliche Hemmnisse. Ein Lied von so absolutem Wohlklang wie z. B. Hartleed im Quickborn, das in den tiefen Brusttönen den Schmerz malt:


Wat weenst du di de Ogen blank,
Segg an, wat deit di weh?
Is Vader krank? is Moder krank?
Is Broder ut to See?
Och ne, mit Vader hett' keen Not etc,

ist im Hochdeutschen durchaus unmöglich. Ich behaupte nickt, dass Goethesche, Heinesche Verse nicht wohlklingend sind, Meister bezwingen auch das wiederstrebende Element, ein Canova würde den Granit zu einer Frauenbüste weich machen. Aber der Plattdeutsche hat den Klang im Ohr, er wird, auch wenn er hochdeutsch dichtet, den Sinn mit Erfolg hinüberbringen, und die Schriftsprache wird immer von ihrer Schwester lernen und gewinnen.

Schillers, des Schwaben

Und es wallet und siedet und brauset und zischt,
Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt,
Bis zum Himmel sprühet der dampfende Gischt —
ist geradezu unschön, obgleich auch Goethe es bewunderte. Bürger würde es nicht bewundert haben.

Vom Strahl der Sonntagsfrühe war
Des hohen Domes Kuppel blank,
Zum Hochamt rufte dumpf und klar
Der Glocken ernster Feierklang,
Es tönten lieblich die Gesänge
Der andachtsvollen Christenmenge —

singt Bürger, ebenso charakteristisch, aber wie Musik so wohltuend. Es ist ja schon eine alte Bemerkung, dass die norddeutschen Dichter die wohlklingendsten Verse schreiben, ich habe Geibel und Freiligrath angeführt. Wir haben jetzt eine Einsicht in den Grund warum.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch