Die innere also wie die äußere Entwickelung einer Sprache ...

Zunächst will ich Ihnen Ihre Fragen beantworten, dann werden wir wohl allmählich weiter, auch zu einem positiven Inhalte gelangen, und selbst wenn ich Sie scheinbar von dem Zielpunkte abführe den ich selbst aufgesteckt habe, so werden wir reicher auf einem Umwege und sicher wieder dahin kommen.
Sie schreiben mir: „Ich kann nicht von dem Gedanken lassen dass das Innere des Menschen, seine Bildungsstufe, seine Gemütsbeschaffenheit seine Sprache erzeugt und bildet, und dass es einen Weg geht dem nicht entgegen zu bauen ist. Ich höre dass die Sprache des Mittelalters die vor 20—30 Jahren die jungen italienischen Schriftsteller wieder einführen wollten untergegangen ist; das ist wohl gut; mir schien sie gezwungen und unnatürlich. — Kann man sich wohl denken dass wir Deutsche der gebildeten Stände bleiben würden was wir sind, wenn wir wieder Plattdeutsch sprächen? Unmöglich.”

Indem ich dieses las wurde mir zu Mute wie wenn Sie erwarteten, nachdem ich dem Hochdeutschen manche Fehler und Schwächen nachgewiesen, nachdem ich Sie vielleicht zu meiner Ansicht herübergezogen dem Plattdeutschen den Vorzug einzuräumen, dann würde ich Ihnen zumuten: bitte, sprechen Sie von nun an Plattdeutsch mit unserem Freunde und mir. Darauf antwortete ich Ihnen im Voraus: Wir wollen bloß untersuchen, wir wollen nichts umstürzen, wir wollen keine Gewaltsamkeiten. Was sich aus der erkannten Wahrheit ergibt, das mag werden und wachsen wie es aus der unerkannten geworden wäre. Fürchten Sie keine praktischen Konsequenzen, haben wir doch eher zusammen eine Kamille oder eine Fliederblume untersucht, ohne dass Sie fürchteten Sie müssten nachher einen Tee davon trinken und sich schwitzen legen. Im Ernst, ich glaube dass keiner der plattdeutschen Schriftsteller je den Gedanken gehabt dasselbe in Gebiete des geistigen und geselligen Lebens wieder einzuführen wo es nicht von selbst noch sich seinen Platz bewahrt hat oder ihn wieder erobern wird auch ohne sie. Sie schrieben zunächst gedrungen vom Geiste der sich einen Stoff zur Verkörperung sucht, aus Wehmut, aus Heimweh nach Jugend, Glück, Treue und Liebe. Die Schriftsprache bot ihnen nicht was sie suchten. Warum nicht? Das wird sich Ihnen in diesen Blättern allmählich deutlicher entwickeln. Dabei entstand in Einzelnen das Bewusstsein der Macht und Schönheit unserer Muttersprache, die Lieder und Erzählungen dieser Schriftsteller haben in vielen wieder eine ähnliche Empfindung von der Herzlichkeit, der Wahrheit, der Treue des Plattdeutschen erweckt, auch in Ihnen, während vorher das Vorurteil allgemein verbreitet war dass es wegen seiner Rohheit den Namen des platten Deutsch wohl verdiene. Diese Empfindung ist eine Macht die nicht ohne Wirkung bleiben kann. Wie sie manche zur Produktion getrieben hat, so wird sie in Anderen anderes wirken, und wenn ich sie nun in Ihnen und vielleicht auch in Andern zur Erkenntnis erheben kann, wenn ich gezeigt habe worin sie ihre Wahrheit, ihre Gründe hat, so wird auch diese Einsicht wieder Folgen haben. Solche Mächte wollen wir aufrufen, es ist unsere Pflicht es zu tun: um ihre praktischen Folgen kümmern wir uns nicht.


Allein damit fange ich denn zugleich an Ihren Einwurf, den ich im Allgemeinen unterschreibe, zu beschränken und Ihnen zu widersprechen. Die Entwicklung der Sprache geht allerdings ihren Weg aus eigner Macht, die Sprache ist ein Organismus dessen Entstehen, Werden, Wachsen, Gedeihen und Verfall nicht abhängig ist von Menschen, aber doch nicht ganz unabhängig von ihnen. Einflüsse aller Art, die nicht aus der Sprache stammen sondern von außen kommen, verändern dieselbe, nicht bloß ihr Geschick sondern auch ihren Charakter; menschlicher Wille, bewusstes menschliches Tun können dann unter geeigneten Umständen einen wesentlichen Einfluss üben. Die Akademie hat unter Ludwig XIV. dem Französischen Fesseln angelegt, die es noch nicht wieder gesprengt hat, es ist sicher dass die französische Sprache jetzt eine andere wäre ohne jene 10—12 Männer mit ihrem Wörterbuch. Das Bestreben der Jung-Italiener eine Sprache des Mittelalters zurückzuführen ging unter, das Bestreben der Flamländer zur Herstellung einer flämischen Literatur, die vor 1830 gar nicht existierte, scheint sein Ziel zu erreichen, es erscheinen jetzt schon über 60 Zeitschriften in flämischer Sprache.

Die innere also wie die äußere Entwicklung einer Sprache geht nicht absolut unabänderliche Wege, menschliches Tun, menschliches Wollen, menschliche Einsicht sind nicht ohne Macht — unter Umständen werden Sie sagen, aber die Umstände können da sein wie wir sehen. Rohe Gewalt hat schon manche Sprache vernichtet. Humboldt erzählt in seiner Reisebeschreibung dass am Orenoco ein Papagei noch kurz vor seiner (H’s) Ankunft dort die letzten Worte einer untergegangenen Sprache, die mit dem Volke selber vom Erdboden verschwunden war, geplappert habe; das Volk hieß die Atures. Die Normannen haben mit der Eroberung Englands das Volk und die Sprache zerbrochen, aus den Trümmern hat sich eine neue, vielleicht die vollkommenste Sprache gebildet. Wilhelm von Humboldt ist der Ansicht dass überall jede Sprache nur dadurch zur Vollendung gelangt dass ein neuer Geist sich des Sprachstoffes bemächtigt, dass ein fremdes Volk, erobernd oder erobert, sich mit demjenigen vermischt das seinen Sprachkörper gleichsam rein wie eine Pflanze gespeist und getränkt hat, und nun frischen Geist in die starken aber ungelenken Glieder haucht; auch die reinsten Sprachen wären demnach Mischsprachen, ihre Vollkommenheit spräche eben dafür.

Die Sprache wüchse also nicht wie ein Baum des Waldes, sondern wie ein Obstbaum im Garten, es muss ein Pfropfreis darauf gesetzt werden wenn er ein edles Gewächs werden soll, Menschentun und Menschenverstand greifen auch in diesen Organismus hinein. In unser jetziges Schriftdeutsch hat sogar der allertrockenste Schulmeisterverstand eines einzelnen Mannes tief hineingegriffen, Veränderungen, Bestimmungen gemacht, denen jetzt die Millionen Deutsche folgen als wären es göttliche Gesetze, dem organischen Bau der Sprache eingeprägt. Ich meine Adelung. Der Mann hat durch seine Grammatik und sein Wörterbuch einen unglaublichen Einfluss geübt. Was wir z. B. jetzt über den Casus bei Präpositionen schon in der Elementarschule lernen ist keineswegs durchstehend richtig, z. B. wegen regiert nicht immer den Genitiv, bei nicht immer den Dativ, gegen müsste sogar nie mit dem Akkusativ stehen, sondern mit dem Dativ: aber Adelung hat es einmal zum Gesetz gemacht und jetzt ist es Gesetz dem sich kein Gebildeter entziehen kann. So fließen unbewusste Triebkraft, äußere Gewalt und verständiges bewusstes Tun in dem Strom einer Sprache zusammen, ja selbst der Unverstand kann weitgreifende Änderungen hervorbringen, die sich nie wieder ausmerzen lassen. Seit der Erfindung des Buchdruckes hat z. B. Unwissenheit aus allerlei Gründen Buchstaben namentlich das h in unsre Schrift eingeschoben wohin es nicht gehörte. Es geschah vielleicht aus einer Art geschmacklosen oder doch unbegründeten Formensinn wonach auch wir ja z. B. nicht gut ein s (statt s) als Auslaut ertragen können. Jetzt können wir das h nicht wieder los werden, denn hin und wieder ist es in die Aussprache übergegangen, z. B. in gehen, stehen, die jetzt zweisilbig einen Reim auf flehen und sehen geben, und sich nicht allgemein wieder einsilbig machen lassen. Den gewaltigsten, ja gewaltsamsten Eingriff in Gestalt und Charakter jeder Sprache hat ihre schriftliche Aufzeichnung gemacht. Diese war anfänglich natürlicher Weise jedes mal unvollkommen. Jedes Volk, so weit die Geschichte reicht, lernte es von einem andern — wir wissen nicht wo die Erfindung zuerst gemacht ist — die Griechen von den Puniern, die Lateiner von den Griechen, Goten also Deutsche von jenen. Die Laute stimmen nur zum Teil, gerade die eigentümlichen konnten also nur unvollkommen bezeichnet werden. Wir wissen dieses zumal an den Eigennamen, z. B. an deutschen die Tacitus und die Griechen ganz verschieden schreiben. Es begegnet uns noch jetzt, wo z. B. der bekannte Biograph Mozarts und Beethovens Ulibitschef in seinen französischen Werken sich Ou, russisch dagegen mit einem Anlaut schreibt.
Dadurch floss gleich etwas fremdes Blut in die naturwüchsigen Adern und an eine völlig reine originale Entwicklung war nicht mehr zu denken. Dazu kommt dass die Ersten, die eine schriftliche Abfassung versuchten meistens ihre Bildung in der schon schriftlich gefesselten ausgeprägten Sprache gewonnen hatten, ja haben mussten, wenn sie zu dem Werke fähig sein sollten. Sie brachten von der fremden Denkweise mit, die fremde Konstruktion ging unwillkürlich in die neue Aufzeichnung hinein. Das geschriebene Wort ist ein Bild des gesprochenen, die Schrift ein Bild der Rede. Die ersten Aufzeichnungen einer Sprache geben notwendig ein unvollkommenes Bild vom damaligen Zustande der Sprache.

Wir haben ein Buch von Firmenich „Germaniens Völkerstimmen”, Probestücke in fast sämtlichen deutschen Mundarten. Es ist ein ansprechender Gedanke, eine Bildersammlung ganz eigner Art, und der Gedanke scheint so leicht ausführbar, man lässt sich eben aus jeder Gegend eine Sprachprobe schicken. So hat Firmenich es auch gemacht. Damit ist es aber eben nicht getan, Firmenichs vielgelobtes Buch hat gar keinen Wert, wenigstens sind die Probestücke welche ich kontrollieren kann, nämlich die in plattdeutschen Dialekten, bis auf wenige, so ungenau, entweder halb hochdeutsch oder karikiert idiomatisch dass sie ihren Zweck gänzlich verfehlen, von ihnen aus schließe ich dass die übrigen nicht besser sind. Den Aufzeichnern legt ihre hochdeutsche Bildung Fesseln an, sie können nicht frei im Dialekt denken, und ihre Gewissenhaftigkeit verführt sie zu Übertreibungen in den Eigentümlichkeiten ihrer Mundart; statt eines Portraits ist damit die Karikatur da.
Als ich zuerst anfing plattdeutsch zu produzieren war es mir fast unmöglich plattdeutsch zu denken, allenthalben schlichen sich unbemerkt die Formeln hochdeutscher Konstruktion und Gedankenfolge ein, so dass ich fast verzweifelte zu meinem Ziele gelangen zu können. Wie sollte es nun denen die zuerst deutsch, also Hochdeutsch meinetwegen und Plattdeutsch z. B. Holländisch niedergeschrieben haben, besser gegangen sein, wenn den Zeitumständen nach auch anders?

Wohin dieser Umweg uns führen soll, das wird sich Ihnen bald zeigen, vorläufig nur zu der allgemeinen Einsicht: dass in der Entwicklung einer Sprache freier Trieb und äußerer Zwang, Natur und künstliche Kultur zusammenwirken.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch