Die Eigentümlichkeiten — Vorzüge — des Plattdeutschen gegen das Hochdeutsche.

Ich erkläre diese Erscheinungen in der hochdeutschen Literatur aus der Einwirkung der plattdeutschen Sprache — des plattdeutschen Volksgeistes mögen Sie sagen — aber der wird sich Dichtern gewiss nicht klarer offenbaren können als in der Sprache. Um es auch Ihnen zu erklären, muss ich Sie jetzt etwas tiefer in die Eigentümlichkeiten — sagen wir gleich Vorzüge — des Plattdeutschen gegen das Hochdeutsche einführen. Wir kehren damit auf einem langen Umwege, aber wie ich hoffe reicher und klarer zu unseren ersten Fragen zurück, wie ich es Ihnen versprochen hatte. — Die Vorzüge unserer Muttersprache (ihre Mängel gehen uns hier darum nichts an, weil gerade sie von der Schriftsprache überwunden, also für dieselbe ohne Wirkung sind) entstehen zum Teil aus ihrer glücklichen Stellung als eine nur gesprochene Sprache an der Seite einer hauptsächlich in der Schrift lebenden Schwester.

Die deutsche Philosophie hat seit dem ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts, seit Christian Wolf (der sie zuerst deutsch lehrte zum Ärger seiner Kollegen, die nur das Latein dazu für würdig hielten) unsere Schriftsprache am meisten und tiefsten umgeackert. Was Leibnitz an ihr vermisste: die Ausdrücke für abstrakte Begriffe, das hat sie durch unsere Philosophie gewonnen, aber nicht ohne zugleich den ganzen Trouble widersprechender Systeme, die sich folgten und sich stürzten, mit durchzumachen. Es gibt wohl wenige ethische oder metaphysische Begriffe, die nicht irgend einmal auch ihr Gegenteil bedeutet haben auf dem Gebiete, wo „Kraft, Geist, Materie, Freiheit, Unsterblichkeit, gut und böse, Gott und Teufel“ sich tummelten, sich setzten und sich aufhoben.
Die plattdeutsche Sprache hat das Glück gehabt, dass weder die Invasion französischer Sprache, noch französischer Atheismus, nicht deutscher Pietismus oder Atomismus und Neuhegelei ihre Begriffe verwirrt hat. Sie spricht noch geradezu und meint was sie sagt. Entbehrt sie der Übung in der Abstraktion, so hat sie dafür sinnliche Sicherheit, die nicht zweifelt an dem was die Augen sehen und die Hände fassen. Dies ist keine Fiktion. Es gab eine Zeit, wo nicht bloß die Lehrbücher der Logik und Metaphysik, sondern wo die Literatur so weit sie in tiefere Untersuchungen einging oder sich das Ansehen davon geben wollte, bis in die Romane hinein, die Sprache Kants redete, Schlagwörter und Wendungen aus der „Kritik der Vernunft“ gebrauchte. Oder ist Ihnen das nicht selbst in Schillers Gedichten der dritten Periode aufgefallen? Von seinen herrlichen prosaischen Aufsätzen nicht einmal zu sprechen.


Dann kam der Schellingianismus und die Naturphilosophie. Ihre Sprache war noch leichter fassbar als die kritische des Alten vom Königsberge. Und mit welcher Begeisterung ist nicht in dieser Sprache gepredigt worden! Denken Sie an Henrik Steffens, Gotthilf Heinrich Schuberth, Oken. Von Hegel werden Sie selbst wissen, da es noch nicht lange ist, dass man fast an jedem Wirtstische Deutschlands wo man sich ruhig niederließ, mit den skurrilen Sprachbrocken der absoluten Methode gepeinigt, in Universitätsstädten fast getötet wurde; wo jedes Buch, jedes Journal mit dem Sein, Nichtsein, dem absoluten Geist und dergleichen Dingen kokettierte. Jetzt ist auch diese Zeit vorüber, die ganze Philosophie ist in Misskredit. Aber wo Sie noch jetzt ein Buch lesen wollen, das irgend einer tiefere Seite menschlichen Interesses berührt, da müssen Sie bei den Hauptbegriffen der Untersuchung z. B. Freiheit, Seele, Geist, Sein, Gott etc. immer erst sich vorsehen, immer erst nachforschen, in welchem Sinn sie gebraucht sind; in jeder der drei Hauptperioden deutscher Philosophie gewiss in einem andern, von jeder Partei philosophischer Überzeugung in der Gegenwart mit besonderer Bedeutung. Dagegen steht das Plattdeutsche da wie der unbeirrte gesunde Menschenverstand.

Missverstehen Sie mich nicht, ich will nicht die Größe der Aufgabe verkennen, ich will gern gestehen dass diese unendliche Arbeit des Geistes getan werden musste. Aber ich schätze Deutschland glücklich, dass es an seinen Mundarten, ja an dem einen ganzen Stamm seiner Sprache einen Regulator besitzt, der das natürliche Bewusstsein dadurch erhalten hat, dass er nicht mit philosophierte, dass er Mundart geblieben ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch