Der Sprachschatz der Neudeutschen hat sich aus dem alten nicht vermehrt!

Als zuerst unsere alte deutsche Literatur, das Nibelungenlied, die Minnesänger, gar das Gotische in der Bibelübersetzung des Ulfila (Wulfila) wieder so zu sagen entdeckt wurde, wenigstens zu Ehren und Bekanntschaft kam, da erwartete man Wunderdinge davon für die Erfrischung unserer Literatur und Sprache. Namentlich glaubte man, dass die Schriftsprache hier aus dem Urquell germanischen Geistes schöpfen und sich neu beleben würde. Ludwig Tieck z. B. sprach mit Begeisterung und geheimnisvollen Winken, als hätte er schon einen Geist getrunken, der aber nur Eingeweihte anhauchen würde. Nicht er allein, sondern viele andere mit ihm erwarteten zumal, dass ein Schatz alter vergrabener Wörter neu belebt in die Reihen unserer abstrakter Begriffe treten, unserer Sprache wieder Fleisch und Blut geben würde, wovon sie offenbar soviel eingebüßt.

Diese Hoffnungen sind eingetroffen. Der Geist will sich nicht offenbaren, der unsrige ist ihm zu verschieden. Die Begriffe wollen sich nicht assimilieren, der Sprachschatz der Neudeutschen hat sich aus dem alten nicht vermehrt. Tiecks, Simrocks, Ettmüllers Übersetzungen sehen aus wie neue Kuchen mit alten Rosinen, es ist ein wunderlich Essen.


In dem Sinne hoffen wir auch nicht vom Plattdeutschen, dass die Schriftsprache gewinnen wird, wir halten es nicht einmal für einen großen Gewinn überhaupt, wenn eine Reihe guter Wörter neu ins Hochdeutsche träten, es würden doch nur Nomina sein, seltener Verba. Ausdrücke für Begriffe hat es aber bereits im Überfluss. Dennoch wäre es wohl eher möglich, dass lebende plattdeutsche als veralterte mittelhochdeutsche Wörter in unseren Sprachschatz passten und ihm angeeignet werden könnten, besonders wenn die Lautstufe nicht entgegensteht oder sich ohne Zwang ändern lässt. Johann Heinrich Voß ist darin geschickt und glücklich gewesen, wie schon erwähnt, unsere andern norddeutschen Meister im Übersetzen waren überall dazu geneigt, aber nicht immer so glücklich, z. B. Kosegarten in Richardsons Klarissa, Bode der Hamburger, Freund von Claudius und Begründer der Zeitschrift „der Wandsbeker Bote“ in Smollets Humphry Klinker. Von ihm schreibt C. A. Böttiger der Sachse schon 1795, man könne „bloß aus dem Bodeschen Klinker Adelungs Wörterbuch um mehr als 400 untadelhafter, und was mehr sagen will, unentbehrlicher Wörter und Wendungen bereichern.“ Dennoch sind wenige davon geblieben und als Gemeingut in die Schriftsprache übergegangen.

Wir sind darin nicht so glücklich wie die Engländer, die jeden einzelnen Ausdruck der ihnen begrifflich passt, der schlagend ist oder irgend eine interessante Seite des Begriffs darstellt, in ihre gebildete Rede aufnehmen können, sei der Ausdruck fremd oder heimisch, veraltet oder mundartig. Ihre Sprache behält dadurch eine Frische die uns abgeht. Welche Kuriosa von Wörtern finden sich allein im Macaulay ohne dass seine Sprache je buntscheckig wird oder den echtenglischen Charakter verliert: indische, griechische, italienische, technische aus den verschiedensten Gebieten, vulgäre Ausdrücke der Lazaroni und Straßenjungen und unter diesen oft schlagend lebendige Verba.

Unser Hochdeutsch sträubt sich dagegen, ein Wort in fremdartigem Gewande stößt es aus, oder assimiliert es wenigstens nicht. Der Engländer z. B. sagt geradezu mit dem Straßenbuben bus für Omnibus, wir würden dergleichen nicht wagen; fremde Verba bezeichnet unsere Sprache als undeutsch durch eine eigne Endung ieren (spazieren), und mundartige Verba nimmt sie gar nicht auf als im Scherze. In seinem gegenwärtigen Zustande hat das Hochdeutsche also offenbar zu wenig Assimilationsvermögen, um aus seinen Dialekten der Gegenwart und Vergangenheit sich geradezu Stoff anzueignen. Doch lässt sich nicht sagen, ob dafür nicht einmal spätere Zeiten seiner Entwicklung günstiger sein werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch