Der Einfluss des Plattdeutschen auf das Hochdeutsche.

Aber sehen wir davon ab, sehen wir auch ab vom Altdeutschen, das seine Wirkung für deutschen Geist und deutsche Literatur wieder nach einer ganz anderen Seite hinübt: so hat das Plattdeutsche, obgleich sein Wortschatz vom Hochdeutschen fast unbenutzt liegt, doch auf die Schriftsprache einen bedeutenden heilsamen Einfluss geübt und wird diesen Einfluss vielleicht noch einmal in Zukunft in einem viel größeren Maße gewinnen. Worin der Einfluss besteht, das könnte ich Ihnen mit einem Worte sagen, es würde aber abstrakt und wie nichtssagend erscheinen. Wir müssen die Sache etwas mit eignen Augen besehen.

Lessing sagt von sich, dass er den ganzen Umgang seiner Muttersprache erst in Hamburg d.h. durch das Plattdeutsche (Lessing war Lausitzer) habe kennen gelernt. Das bedeutet bei diesem Mann der Tat, dem das deutsche Wort Waffe war wie keinem je, gewiss nicht, dass er in Hamburg einige volkstümliche plattdeutsche Worte und Wendungen gehört, gebraucht und wieder vergessen hat: es finden sich auch wohl kaum einzelne plattdeutsche Vokabeln in Lessings Sprache seit seiner Hamburgischen Dramaturgie. Die Einwirkung des Plattdeutschen wird daher noch von anderer Art gewesen sein. Wäre es unmöglich, dass sein wunderbarer Stil, der in Schlagfertigkeit und Humor in den Streitschriften mit dem hamburgischen Pastor Goetze seine Vollendung erreicht, dem Plattdeutschen Dank schuldig sei? Denn es ist doch merkwürdig, dass bei der Entwicklung der deutschen poetischen Nationalliteratur Nord- und Süddeutschland immer abwechselnd und fast im selben polaren Gegensatz das neue Triebreis angesetzt das den Baum höher hob. Und dabei vertritt Norddeutschland fast immer das verständige, logische Element wie z. B. in den Hamburgern Brockes und Hagedorn, den Ernst und zugleich den trocknen Humor oft bis zur echten Volkstümlichkeit wie im „Wandsbeker Boten“, oft bis zur hausbackenen Prosa wie in dem Itzehoer Johann Müller (Siegfried von Lindenberg). Satz und Sprachbau der norddeutschen Dichter früherer Zeit ist immer klar, einfach, ein Mann wie Fischart z. B., auch wie Jean Paul wäre in Norddeutschland unmöglich gewesen: die Form wiegt bei uns über.


Trotz Opitz und den Bemühungen der Schlesier war Johann Heinrich Voß es, der Norddeutsche, der den Hexameter für unsere Dichtkunst eroberte. Selbst Goethe und Schiller haben von ihm zu einer Zeit als sie längst anerkannt die ersten Dichter Deutschlands waren, Prosodie und Metrik gelernt. Der Göttinger Hainbund, meist aus Norddeutschen bestehend, hielt (wie ich namentlich aus einem zum Teil noch ungedruckten Briefwechsel zwischen Bürger und Boie ersehe) mit einer Strenge auf logische Reinheit und auf die Sauberkeit des Satzbaues, wie sich unsere jetzigen Verskünstler wohl nicht träumen lassen.

Ein neuer wohlklingender Reim ist ihnen wie ein Fund, ja unser ganzer Reimvorrat, den wir gegenwärtig am meisten anwenden, ist hauptsächlich vom Hainbund flüssig gemacht. Die wohlklingendsten deutschen Verse sind von Norddeutschen geschrieben, gegen Bürgers Vokal- und Konsonantenmusik kann nicht einmal Goethe wetteifern, in Geibel und Freiligrath (einem Lübecker und einem Westfalen), um ein paar Lebende zu nennen, zeigt es sich noch einmal, in letzterem sogar der Reimklang bis zum Extrem.
Man vergleiche einmal die Lenore:

Lenore fuhr ums Morgenrot
Empor aus schweren Träumen,
Bist untreu Wilhelm etc.

mit dem Erlkönig:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.

Von der inneren Form sprechen wir hier nicht.

Oder in des Pfarrers Tochter:

Die Mauern wie Silber,
Die Dächer wie Stahl,
Die Fenster wie brennende Spiegel.

Zum Teil beruht es auf diesem einschmeichelnden Wohlklange, dass Bürgers Balladen die bekanntesten aller deutschen Gedichte und tief in die Volksschichten hinab gedrungen sind, wohin sonst nur unsere echten Volkslieder zu gelangen pflegten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch