Abschnitt 8

Salzburg


Der hiesige hohe Adel besteht größtenteils aus österreichischen Familien und zeichnet sich durch Herablassung, Weltkenntnis und Sitten von dem dummstolzen Trotz der bayrischen und schwäbischen Baronen auffallend aus. Aber der kleine hiesige Adel, der große Schwarm der kleinen Hofleute, macht sich durch seine erbärmliche Titelsucht und seinen elenden Stolz lächerlich. Du findest hier gegen hundert gnädige Herren, die von drei- bis vierhundert Gulden auf Gnade des Hofes leben und die du nicht gröber beleidigen kannst, als wenn du zu ihnen: „Mein Herr“, oder zu ihren Weibern: „Madame“, sagst. Man muß sich hier angewöhnen, immer über das dritte Wort „Euer Gnaden“ zu sagen, um nicht für einen Menschen ohne Lebensart gehalten zu werden. Wegen der unbeschreiblichen Armut unter diesem Teil der Einwohner findet man eine Menge gnädiger Fräulein, welche die Dienste der Haushälterinnen und Barmherzigen Schwestern verrichten. Sie beklagen sich alle, daß ihnen der Hof keine hinlängliche Besoldung gibt, um ihrem Stand gemäß leben zu können. Ich hab aber nicht ausfindig machen können, was eigentlich ihr Stand sei. Fast alle haben weder Güter noch Kapitalien, und da sie es für eine große Erniedrigung halten, ihre Kinder zu Handwerkern, Fabrikanten, Künstlern oder Handelsleuten zu erziehen, so sieht sich der Hof genötigt, die Besoldungen so klein als möglich zu machen, um den vielen gnädigen und gestrengen Herren, von denen zwei Dritteile zu seiner Bedienung überflüssig sind, grade soviel geben zu können, daß sie nicht verhungern. Ihr Stand ist also nichts als der gute Willen des Hofes, eine große Menge unnützer Bedienten zu ernähren, und ihr kühnes Vertrauen auf diesen guten Willen.


Wenn man ihnen übrigens die gehörige Titulatur gibt, so sind sie die artigsten, geselligsten und dienstfertigsten Geschöpfe von der Welt. Sehr viele von ihnen beschäftigen sich auch mit der Lektur der deutschen und französischen Dichter, besonders jener, die für das Theater gearbeitet haben. Die Theaterwut herrscht hier so stark als zu München, und man lechzt nach der Ankunft einer fahrenden Schauspielergesellschaft wie im äußersten Sibirien nach der Wiederkehr des Frühlings. Ein französischer Ingenieur, in Diensten des Fürsten, hat ihnen ein niedliches Bühnlein gebaut, mit einigen säuberlichen Statuen und Säulen, die aber nichts zu tragen haben als ein dünnes Brett vor dem Vorhang mit dem Wappen des Fürsten.

Im ganzen glaube ich hier mehr Aufklärung bemerkt zu haben als zu München. Obschon der Landesherr ein Geistlicher ist, so gibt es hier nach dem Verhältnis der Größe beider Länder doch lange nicht so viele Klöster als in Bayern, und die hiesige Geistlichkeit zeichnet sich durch gute Zucht, Demut, Bestrebung, ihrem Beruf nachzukommen, und andre Tugenden von der bayrischen sehr aus. Man versteht hier die Regierungskunst unendlich besser als zu München. In Rücksicht auf den Kopf kann man von dem jetzigen Fürsten nicht Gutes genug sagen, aber - sein Herz kenne ich nicht. Er weiß, daß er den Salzburgern nicht sehr angenehm ist, und verachtet sie daher und verschließt sich. Ich glaube, die Vorwürfe, die man ihm macht, sind sehr übertrieben. Man will berechnet haben, daß er jährlich gegen 300.000 Gulden nach Wien an seine Familie schicke und dem Land also einen guten Teil seines Marktes entziehe. Ein Teil der Landesstände, nämlich fast das ganze Domkapitel, hat beim Reichshofrat zu Wien einen Prozeß gegen ihn anhängig gemacht und besonders die Beschwerde angebracht, daß er aus ihrer Kasse gegen Scheine vieles Geld genommen und sie nun die Kisten, anstatt klingender Münze, voll Papier hätten, ohne abzusehn, wie es in bares Geld verwechselt werden könnte. Ich weiß nicht, inwieweit die Klagen des hochwürdigen Domkapitels gegründet sind, aber soviel ist gewiß, daß er in Rechtfertigung seiner selbst ungemein viel Feinheit und Verstand geäußert hat und daß einige Domherren gleich von Anfang seiner Regierung gegen ihn aufgebracht waren, weil sie sich Hoffnung zu der erzbischöflichen Würde gemacht hatten, die aber vom Hof zu Wien dem jetzigen Fürsten zugedacht war. Das, was er das Land genießen läßt, so wenig es auch sein mag, verwendet er wenigstens mit ungemein viel Verstand zum Besten desselben und gemeiniglich zu guten Erziehungsanstalten. Er schont seine Geistlichkeit nicht und hat den hiesigen Augustinern auf einmal gegen 100.000 Gulden weggenommen und die eine Hälfte dieser Summe für sich, die andere aber zum Genuß des Publikums bestimmt. Er ist in allem, sogar auch in seiner einzigen Passion, der Jagd, äußerst sparsam, und mit einem Bataillon wackerer Soldaten, einem der schönsten, die ich je gesehen, dessen Offiziers ihm sehr zugetan sind und welches ganz auf österreichischen Fuß gesetzt ist, kann er sich über alles Murren hinaussetzen.

Alles atmet hier den Geist des Vergnügens und der Lust. Man schmaust, tanzt, macht Musiken, liebt und spielt zum Rasen, und ich habe noch keinen Ort gesehen, wo man mit so wenig Geld so viel Sinnliches genießen kann. - Seit einiger Zeit soll die Venusseuche Syphilis stark eingerissen haben. Doch die vielen blühenden Gesichter der mannbaren Mädchen, deren Gürtel fast durchaus gelöset sind, macht mich glauben, daß bloß die Neuheit das Übel so groß macht. - Man spricht hier von religiösen und politischen Gegenständen mit einer Freiheit, die der Regierung Ehre macht, und in den Buchläden kann man wenigstens die deutschen Schriften fast ohne Einschränkung haben. - Einer der Haupttummelplätze der öffentlichen Lustbarkeit ist der eine Stunde von hier entlegene fürstliche Garten Hellbrunn, wo Bier und Wein geschenkt wird. Das Merkwürdigste in demselben einige vortreffliche Statuen von Marmor ausgenommen ist ein großer Park, in dessen Mitte sich ein waldichter Berg erhebt. Auf einer Seite bietet er eine schroffe Felsenstirne dar, die einer Herde Steinböcke zum natürlichen Aufenthalt dient und welche man wegen ihrer zunehmenden Seltenheit in den Gebirgen des Landes hier nachziehn will. Auf der entgegengesetzten Seite enthält dieser Berg in einer Kluft ein in den natürlichen Felsen gehauenes Theater, und auf der Vorderseite desselben steht im Schatten bejahrter Eichen und Buchen ein kleines Schloß, welches über einen Teil des Parks, den Garten und die Gegend umher bis zu den hohen Granitgipfeln gegenüber eine prächtige Aussicht beherrscht. Am Fuß des Berges weidet eine ungeheure Herde Damhirsche, und in verschiedenen Nebenabteilungen werden andre Gattungen von Gewild aufbehalten. Auf der andern Seite stoßen an den Garten eine kostbare Fasanerie, Teiche für Biber und verschiedene Behältnisse für seltsame Tiere. Alles ist für jedermann offen.

Die hiesige Universität erhält sich durch die Kongregation der Benediktinerklöster, welche sie mit Lehrern besetzen. Den studierenden Untertanen der schwäbischen Reichsprälaten, die mit im Bund sind, dient es zu einer Empfehlung, wenn sie zu Salzburg absolviert haben, und außer diesen und den Eingebornen findet man wenig Studierende hier, obschon der größte Teil der Lehrstühle mit ausnehmend wackern Männern besetzt sind. Der Fonds der Universität ist zu klein, als daß alle die Fächer, worüber sich in unsern Zeiten das Reich der Wissenschaften ausgebreitet hat, gehörig besorgt werden könnten. Die sämtlichen Einkünfte derselben belaufen sich nicht viel über 5.000 Gulden.

Zu dem Nationalstolz, welcher unter diesem Völkchen herrscht, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Mir ist alles, was zum Glück der Menschen etwas beiträgt, gewissermaßen ehrwürdig, so gering und unbedeutend es auch sein mag. Wie unglücklich wären wir, wenn man uns die Spiele und Täuschungen unserer Einbildung nehmen wollte. Die Einwohner dieser Stadt ärgern sich sehr darüber, wenn man sie Bayern heißt. Ich dachte, weil ihr Land im Kreis dieses Namens läge, so wären sie so gut Bayern, als die Württemberger Schwaben sind. Aber man belehrte mich sehr umständlich, daß die Vergleichung mit Schwaben nicht statthätte, weil kein einzler Teil desselben ausschließlich Schwaben hieße, daß der bayrische Kreis seinen Namen von dem Herzogtum hätte, weil es der größte Teil desselben sei, daß aber dieser Kreis im Grunde ebensogut der salzburgische heißen könnte. Man will hier mit den Bayern gar nichts gemein haben und setzt sie sehr tief unter sich. Etwas mehr Geschmack und gute Lebensart und etwas weniger Bigotterie muß man den Salzburgern vor den Bayern einräumen, aber daß man den Abstand so groß macht und die Bayern gar unter die Tiere heruntersetzt, das muß man der mächtigen Fee Phantasie zugut halten. Wenigstens sollten aber die hiesigen Herren und Damen bedenken, daß, wenn es jetzt hierzulande etwas heiterer ist als unter dem bayrischen Himmel, sie es bloß dem jetzigen Fürsten zu danken haben, der die magischen Dünste des Aberglaubens mit seinem geheiligten Stab aus seinem Gebiete verscheucht. Eine ebenso schnelle Revolution kann in kurzer Zeit die Bayern weit über ihren jetzigen Zustand hinaussetzen. Man hat hier noch Denkmäler genug von der Finsternis, die vor fünfzehn und zwanzig Jahren sich über den hiesigen Horizont gelagert hatte. Im hiesigen Gefängnis der Geistlichen sitzt noch ein Pfarrer, der, um seiner Gemeinde einen starken Haß gegen die Sünde und eine lebhafte Furcht vor der Hölle einzujagen, seinen Schulmeister als einen Teufel ankleidete, ihn unter der Kanzel versteckte und auf seinen Ruf mitten in der Predigt neben ihm erscheinen ließ, um Zeuge der Wahrheit zu sein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.