Abschnitt 2

München


Ein anderer Teil dieser Kothurnaten Theaterdichter läßt sich von dem herrschenden Geschmack verführen. Da trat vor einigen Jahren ein gewisser Goethe, den du ohne Zweifel nun aus einigen Übersetzungen kennst, mit einem Stück auf, das seine sehr große Schönheiten hat, aber im ganzen das abenteuerlichste ist, das je in der Theaterwelt erschienen. Ich brauche dir weiter nichts zu sagen, um dir einen Begriff davon zu geben, als daß der Bauernkrieg unter Kaiser Maximilian das stimmt nicht, 1525 gab es keinen Kaiser dieses Namens mit brennenden Dörfern, Zigeunerbanden und Mordbrennern mit den Fackeln in der Hand auf die anschaulichste Art vorgestellt wird. Es heißt „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ und hat, verschiedenen Versuchen ungeachtet, zum großen Leidwesen des deutschen Publikums noch nicht auf das Theater gebracht werden können, weil die häufigen Veränderungen der Szenen, die erstaunlich vielen Maschinen und Dekorationen zu viel Aufwand erfodern und zwischen den Auftritten gar zu lange Pausen verursachen. Goethe ist wirklich ein Genie. Ich habe einige andere Theaterstücke von ihm gelesen und aufführen gesehen, worin man sieht, daß er die Menschen, die, wie er, auf ihren zwei Beinen gehen, in dem alltäglichen Leben ebensogut zu behandeln weiß als die, welche auf dem Kopf stehen. Mit Vergnügen sahe ich sein „Erwin und Elmire“, eine sehr niedliche Operette, und seinen „Clavigo“, ein Trauerspiel, wozu unser Beaumarchais franz. Schriftsteller, schrieb den Text zu Mozarts „Figaro“, † 1799 , wie du weißt, den Stoff gegeben. Dieses hat zwar auch seine starken Ausschweifungen, aber einem Genie ist alles erlaubt. - Nun drängte sich ein unzähliger Schwarm von Nachahmern um den Mann. Sein „Götz von Berlichingen“ war ein magischer Stab, womit er einige hundert Genies auf einen Schlag aus dem Nichts hervorrief. Stumpf gegen die wahren Schönheiten des Originals, suchten die Nachahmer ihre Größe darin, die Ausschweifungen desselben treulich zu kopieren. Im „Götz von Berlichingen“ wird mit jedem Auftritt das Theater verändert. Ein gutes Stück mußte also nun der Reihe nach wenigstens eine ganze Stadt durchlaufen, von der Kirche an, durch die Ratsstuben, Gerichtshöfe, über die Marktplätze bis zur Walstatt. Da Goethe etwas verschwenderisch mit den Exekutionen umging, so wimmelte es nun in der deutschen Theaterwelt von Scharfrichtern. Shakespeare, den Goethe vermutlich bloß aus Laune oder vielleicht in der guten Absicht, um seine Landsleute auf diesen großen Dichter aufmerksamer zu machen, in seinem „Götz“ zum Muster genommen, Shakespeare war nun der Abgott der deutschen Theaterdichter; aber nicht der Shakespeare, welcher dir die Menschen wie Raffael ital. Maler, † 1520 in jeder augenblicklichen Stimmung, in allen Nuancen der Handlungen, mit jeden Bewegungen der Muskeln und Nerven, mit jeder Schattierung der Leidenschaften, mit aller möglichen Wahrheit darstellt, sondern der Shakespeare, welcher aus Mangel einer Bekanntschaft mit andern Originalien und einer gehörigen Ausbildung sich mit aller Gemächlichkeit seiner Laune überließ, mit Flügeln seines Genies über Jahrhunderte und über ganze Weltkreise wegflog und sich im Gefühl seiner vorschwebenden Gegenstände um keine Einheiten und um keinen Wohlstand kümmerte. Ein Geschichtmaler kann unendlich stark im Ausdruck einzelner Personen oder Parteien sein und die anständige Zusammensetzung, das, was man Haltung heißt, und verschiedene andere Dinge vernachlässigen, aber wenn sein Schüler in Nachahmung dieser Nachlässigkeit seine Stärke sucht, so ist er wahrhaftig zu bedauern.


Die Regeln sind keine Sklavenfesseln für das Genie. Entweder trägt es sie wie Blumenketten, ungezwungen, leicht und mit Anstand, oder, wenn es den Wert dieses Schmuckes nicht kennt, wenn es in seiner natürlichen Wildheit auftreten will, so ersetzt es durch die unbändige Stärke, womit es seine Gegenstände umfaßt, die vernachlässigten Verzierungen. Aber solche stürmische Genien sind höchst selten und platterdings nicht zum Nachahmen in den Manieren gemacht. England hat seit so vielen Jahrhunderten nur einen Shakespeare, man muß sagen, ganz Europa hat nur einen hervorgebracht. Der größte Teil der kunsttreibenden Erdensöhne wird immer durch angestrengtes Studieren seine Größe suchen müssen, und die Regeln sind zur Prüfung des Studiums gemacht.

Dieser lächerliche Geschmack, durch die Vernachlässigung des Wohlstandes und der Regeln, durch affektierte Ausgelassenheit, abenteuerliche Situationen, abscheuliche Grimassen und erbärmliche Verunstaltungen glänzen zu wollen, hat seit dieser Zeit alle Teile des literarischen und kunsttreibenden Deutschlandes angesteckt. Man hat junge angebliche Genies in der Menge, die in ihren verschiedenen Fächern, in der Musik, in der Malerei, in andern Teilen der Dichtkunst, um so größer zu sein wähnen, je weiter sie sich von den Regeln entfernen und je weniger sie studieren. Die Alten dachten anders hierüber, und die Werke, welche sie uns hinterlassen haben, werden von diesen vorgeblichen Urgenien gewiß nicht verdunkelt werden. Virgil römischer Dichter verglich seine Produkten der unförmlichen Geburt einer Bärin, die bloß durch vieles Lecken eine Gestalt bekommen muß, und man sieht dem Terenz und Plautus römische Schriftsteller des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts gewiß an, daß sie eine Szene ihrer Schauspiele nicht bei einer Pfeife Tobak vollenden konnten. - Du weißt, daß Shakespeare auch unter uns seit einiger Zeit seine Anhänger hat. Aber dazu wird es doch so leicht nicht kommen, daß seine Ausgelassenheit Regel wird, und wenn auch gleich Arnaud franz. Dramatiker, † 1805 den Ungeheuern den Weg auf unsere Bühne geöffnet hat, so sind sie doch bisher zu selten erschienen, als daß wir Gefahr liefen, die gewöhnlichen Menschen und unsere ehrlichen, bekannten Mitbürger durch dieselben davon verdrängt zu sehen.

In der deutschen Sprache machte dieser verdorbene Geschmack eine merkwürdige Revolution. Wenn man die Schriften eines Geßners Verleger und Schriftsteller, † 1788 , Wielands und Lessings liest, so sieht man, daß die Sprache im Gang zu ihrer Ausbildung war und nach und nach die Ründung und Politur bekommen haben würde, die zu einer klassischen Sprache unumgänglich nötig ist. Aber den neugeschaffenen Genies war es nicht genug, in ihrer erzwungenen Wut einzelne Wörter zu verstümmeln, sondern sie gingen mit ganzen Perioden ebenso grausam um. Alle Verbindungswörter wurden abgeschafft und alle Gedankenfugen getrennt. In vielen neuern Schriften stehen die Sätze alle wie unzusammenhängende Orakelsprüche da, und man findet keine Unterscheidungszeichen darin als Punkten und !!! und ??? und - - -. Jeder wollte sich zu seinen anmaßlichen Urideen auch neue Wörter schaffen, und du müßtest dich krank lachen, wenn du gewisse literarische Produkte Deutschlands, die von vielen für Meisterstücke gehalten werden, kennen solltest.

Nun ist eben hiemit nicht gesagt, daß in Deutschland gar keine Leute von besserm Geschmack seien. Sie wurden nur überschrien, weil sie die geringere Zahl ausmachen, mit Gelassenheit und überzeugenden Gründen sprechen wollten, die andern aber ein betäubendes Geplärre begannen. Erst gestern sahe ich mit vielem Vergnügen ein neues kleines Stück aufführen, welches den Titel hat: „Geschwind, ehe es jemand erfährt“, und welches sich durch die Simplizität der Handlung, durch sanftes und stilles Spiel seiner einfachen Maschine und besonders durch den reinen und runden Dialog ungemein ausnimmt. Ich sahe noch verschiedene andere Lust- und Trauerspiele vom ähnlichen Gehalt, aber das Parterre will geraset, gemordet, gedonnert und kanoniert haben, und die Schauspieler führen solche Stücke nur auf, um zu verschnaufen und zu neuen Rasereien Atem holen zu können.

Die hiesige Schauspielergesellschaft ist ohngefähr die sechste, die ich in Deutschland gesehen. Du wunderst dich über die Menge in dem kleinen Strich? Es dienet dir also zur Nachricht, daß seit verschiedenen Jahren in Deutschland unzählige kleine Haufen Komödianten, wie in Spanien und England, auf dem Lande herumziehen, oft in Scheunen und Ställen der Dörfer und Flecken ihre Bühnen aufschlagen und vom Dorfschulzen den Schlafrock und die Pantoffeln borgen, um einen Julius Cäsar in der Toga oder, welches ihnen eins ist, einen Sultan darin spielen zu können. In Schwaben sah ich vier solche Gesellschaften. Sie bestehen meistens aus verlaufenen Studenten und liederlichen Handwerksburschen, die bald auf dem Theater, bald unter den Soldaten, bald im Zuchthaus, bald im Spital sind. Die hiesige Schauspielergesellschaft ist weit über diesen Troß erhaben. Alle Glieder stehen in der Besoldung des Hofes, welcher die Einnahme der Entrees hat. Fast alle sind sehr artige, gebildete Leute, und in Rücksicht auf die Kunst übertreffen sie weit meine Erwartung. Ich wüßte nicht über drei bis vier Theater in Frankreich, die ich dem hiesigen vorzöge. Die Schauspieler genießen den Umgang der größten Leute des Hofes und haben also Gelegenheit, sich auszubilden. Wie widersinnig, daß dieser Umgang dem Dichter verschlossen ist, welcher ebensoviel dabei zu gewinnen hat als der Schauspieler!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.