Abschnitt 1

München


Mit meiner Reisegesellschaft von Augsburg hieher war ich sehr wohl zufrieden. Der Postwagen war mit einigen Theatinermönchen Mönchsorden, der sich der Seelsorge und der Krankenpflege widmet, die ihrem Institut gemäß von der Vorsehung Gottes leben, aber auf alle Fälle den Beutel immer wohl gespickt haben, und einigen Kaufleuten angefüllt. Alle waren wackre Zecher und lustige Bursche, und die Mönche äußerten durch ihr Betragen, daß ihnen der bayrische Himmel ganz vorzüglich günstig sei. Sobald man über der Lechbrücke ist, muß man dem Wein gute Nacht sagen und sich an dem vortrefflichen bayrischen Bier halten, wovon die Maß nur drei Kreuzer kostet. Die Theatiner wußten immer vorher, auf welcher Station das bessere Getränke anzutreffen sei. Nach einigen tüchtigen Schmäusen fuhren wir, gleich einem Chor Bacchanten, unter Singen und lautem Gelächter in das schöne München ein.


Als ich vom Posthaus ins Wirtshaus kam, trat eine schöne Wirtin vor mich, sah mir sehr bedenklich ins Gesicht und tat verschiedene Querfragen, die ich wegen Mangel an Kenntnis der hiesigen Provinzialaussprache nur halb beantworten konnte. Da mir das viele Quästionieren neugieriges Ausfragen an Wirten unausstehlich ist, so sagte ich ihr etwas rauh, sie sollte mir geradezu sagen, ob ich auf einige Tage bei ihr Bett und Tisch haben könnte. Mit einiger Schüchternheit gab sie mir endlich zu verstehen, sie habe mich so halb für einen Juden angesehen und ich weiß nicht zu welchem Heiligen ein Gelübde getan, keinen Juden zu beherbergen. Bald hätte ich wieder die Türe in die Hand genommen, söhnte mich aber des andern Tages, als mein etwas zu großer Bart abgeschoren war, mit der hübschen Judenhässerin förmlich und feierlich aus und befinde mich jetzt recht wohl bei ihr.

Ungeachtet des starken Schmausens unterwegs hieher hatte ich doch Zeit genug, die Bemerkung zu machen, daß der Ackerbau in diesem Teil von Bayern lange nicht so gut bestellt zu sein scheint als in Schwaben. Ich habe sehr viele schwäbischen Dörfer gesehn, die viel eher Städte zu nennen wären als die elenden Dinge, die ich seit meinem kurzen Aufenthalt in Bayern unter diesem Namen zu Gesicht bekommen, und darunter waren Dörfer, wovon manches die sechs ersten um München her sehr weit voneinander zerstreuten Orter zusammengenommen an Mannschaft übertraf.

Ich bin mit dem Hof und dem Land noch zu wenig bekannt, um dir etwas Zuverlässiges davon sagen zu können. Ich gedenke mich eine ziemliche Zeit hier aufzuhalten und werde dir in gehöriger Ordnung meine Erkundigungen mitteilen. - Unterdessen besuche ich fleißig das hiesige deutsche Theater und bin nun eben aufgelegt, dich mit dem Zustand des dramatischen Teils der deutschen Literatur, insoweit ich ihn bisher habe kennengelernt, zu unterhalten.

Schon zu Straßburg erfährt man, wenn man die deutsche Sprache versteht, daß Deutschland seit einigen Jahren mit einer Art von Theaterwut befallen ist. Da werden die Buchläden von Zeit zu Zeit mit einem ungeheuern Schwall von neuen Schauspielen, Dramaturgien, Theateralmanachen, Theaterchroniken und Journalen überschwemmt, und in den Katalogen neuer Bücher nehmen die Theaterschriften allzeit richtig den dritten Teil ein. Ich halte selbst das Dramatisieren für die höchste Stufe der Dichtkunst, so wie das Geschichtemalen für den edelsten Teil der Malerei. Es soll uns den edelsten Teil der Schöpfung, den Menschen, in seinen mannigfaltigen Verhältnissen am anschaulichsten und mit der größten Wahrheit darstellen. Aber die Art Menschen, welche jetzt in den meisten deutschen Schauspielen herrscht, findet man unter dem Mond höchst selten, und wenn hie und da einer von dieser Art von ohngefähr erscheint, so nimmt die Polizei des Orts, wenn eine da ist, gewiß die Versorgung desselben über sich und tut ihn ins Toll- oder Zuchthaus.

Stelle dir vor, lieber Bruder, die jetzigen Lieblingscharaktere des dramaturgischen deutschen Publikums sind rasende Liebhaber, Vatermörder, Straßenräuber, Minister, Mätressen und große Herren, die immer alle Taschen der Ober- und Unterkleider voll Dolche und Giftpulver haben, melancholische und wütende Narren von allen Arten, Mordbrenner und Totengräber. Du glaubst es vielleicht nicht, aber es ist die Wahrheit, daß ich dir über zwanzig Stücke nennen kann, worin verrückte Personen Hauptrollen spielen und der Dichter seine Stärke in der Schilderung der Narrheit gesucht hat. Und was sagst du, wenn ich dich auf meine Ehre versichere, daß das deutsche Publikum, welches ich bisher zu kennen die Ehre habe, gerade die Stellen am stärksten bewundert und beklatscht, wo am tollsten geraset wird? - Man hat Stücke, worin die Hauptperson alle zwölf bis fünfzehn mitspielende Personen der Reihe nach umbringt und sich dann zur Vollendung des löblichen Werkes den Dolch selbst in die Brust stößt. - Es ist ausgemacht, daß die Stücke den meisten Beifall haben, worin am häufigsten geraset und gemordet wird, und verschiedene Schauspieler und Schauspielerinnen konnten mir nicht genug beschreiben, was sie für Not hätten, um auf verschiedene neue Arten sterben zu lernen. Es kommen Stellen vor, wo Leute unter abgebrochenen Reden und anhaltenden Konvulsionen eine halbe Stunde lang in den letzten Zügen liegen müssen, und das ist doch wahrlich kein geringes Stück Arbeit, einen solchen Tod gehörig zu soutenieren behaupten. Du solltest nur manchmal eine deutsche Schaubühne sehn, wo vier bis fünf Personen auf einmal auf dem Boden liegen und der eine mit den Füßen, der andre mit den Armen, der mit dem Bauch und jener mit dem Kopf seinen Todeskampf ringt und das Parterre unterdessen jede Zuckung der Glieder beklatscht.

Nach den Rasenden und Mördern behaupten die Besoffenen, die Soldaten und Nachtwächter den zweiten Rang auf der deutschen Bühne. Diese Personnagen entsprechen dem Nationalcharakter zu sehr, als daß sie einem deutschen Zuschauer auf der Bühne nicht willkommen sein sollten. Aber warum der phlegmatische Deutsche, der zu stürmischen Leidenschaften, zu rasenden Unternehmungen, zu starken tragischen Zügen so wenig Anlage hat, so verliebt in die Dolche, Giftmischereien und hitzige Fieber auf dem Theater ist, das konnte ich mir anfangs so leicht nicht erklären.

Auf der Seite des Publikums mag wohl der Mangel an mannigfaltigern Kenntnissen des bürgerlichen Lebens und am geselligen Umgang eine Ursache davon sein. Die verschiedenen Volksklassen kreuzen sich in den deutschen Städten nicht auf so verschiedene Art wie in den französischen. Alles, was Adel heißt, und wenn auch der Adel nur auf dem Namen beruhen sollte, und alles, was sich zum Hof rechnet, ist für den deutschen Bürger verschlossen. Seine Kenntnisse, seine Empfindungen von gesellschaftlichen Situationen sind also viel eingeschränkter als jene unserer Bürger. Er hat kein Gefühl für unzählige Verhältnisse des gemeinen Lebens, die der Bewohner einer mittelmäßigen französischen Stadt gehörig zu schätzen und zu empfinden weiß. Bei dieser Gefühllosigkeit für bürgerliche Tugenden und Laster, bei dieser Stumpfheit für die Verkettungen und Intrigen des gewöhnlichen gesellschaftlichen Lebens hat nun der deutsche Bürger natürlich zu seiner Unterhaltung im Theater Karikaturen und starke Erschütterungen nötig, da sich der Franzose mit einem viel feinern Spiel der Maschinen eines Theaterstückes begnügt und seine eigne Welt gerne auf der Bühne vorgestellt sieht, weil er sie kennt. Die Theaterstücke, welche man aus Sachsen bekommt, sind nicht so abenteuerlich und ungeheuer als die, welche in dem westlichen und südlichen Teil von Deutschland gemacht werden, weil ohne Zweifel mehr Aufklärung, Sittlichkeit und Geselligkeit unter den Bürgerständen daselbst herrscht und man also auch die Schattierungen der Auftritte des gemeinen Lebens besser fühlt als hier. Überhaupt ist hierzulande der große Haufen mehr Pöbel als in Frankreich, und bekanntlich lauft der Pöbel gerne zum Richtplatz und zu Leichen.

Auf der Seite des Dichters hat diese tragische Wut verschiedene Ursachen. Die meisten der jetzt lebenden deutschen Schauspielschreiber haben das mit dem übrigen Pöbel gemein, daß sie die Fugen und das Spiel des bürgerlichen Lebens gar nicht kennen. Viele derselben sind Studenten, die noch auf der Schule sitzen oder soeben davon zurückgekommen sind und das Schauspielmachen zu ihrem Metier erwählt haben. Da schmauchen sie ohne alle Weltkenntnis hinter ihrem Ofen, phantasieren sich in den Tobakswolken eine Riesenwelt, worin sie als Schöpfer handeln können, wie es ihnen beliebt, und ihren Kreaturen keine Schonung, keine Ausbildung, keine Polizei und keine Gerechtigkeit schuldig sind. Da ist es nun kein Wunder, daß aus diesen Wolken so viele Menschen ohne Köpfe und so viele Unmenschen mit Köpfen herausspringen. Sie suchen die tragische Stimmung des Publikums zu benutzen, um mit der größten Leichtigkeit ihr Brot zu gewinnen, denn, ohne auch das willkürliche Abenteuerliche in Anschlag zu bringen, so ist es doch allzeit leichter, eine Tragödie als eine Komödie von gleicher Güte zu machen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.