Abschnitt 5

Hamburg (Mecklenburg)


Bloß der mißverstandne Religionseifer wollte einigemal Feuer anblasen; allein zu unsern Zeiten ist das Religionsfeuer überhaupt nur eine Strohflarnme, die sich noch leichter aus- als anblasen läßt. Die Gegenwart des kaiserlichen Gesandten, den die Bürgerschaft aus mehr als einer Ursache zu respektieren hat, und die Weisheit des Rats sorgen dafür, daß die Funken erstickt werden, ehe sie zu Flammen ausbrechen können. Unterdessen war Hamburg von jeher mit orthodoxen Pfaffen gesegnet, die es an nichts ermangeln ließen, was einen Brand erregen könnte. Durch unermüdetes Blasen brachten sie es einigemal dahin, daß das Volk zu Tätlichkeiten schreiten wollte, um den Gottesdienst der Katholiken in der Hauskapelle des kaiserlichen Gesandten zu stören; allein die Polizei war ihnen allezeit überlegen. Wirklich steht an der Spitze der hiesigen Geistlichkeit ein Mann, welcher der Stadt in unserm philosophischen Jahrhundert wenig Ehre machen würde, wenn man nicht wüßte, daß ihn der Rat bloß deswegen duldet, weil er äußerst sicher ist, daß seine inquisitorischen Anstalten nicht die geringste Wirkung haben und die Scheiterhaufen, die er beständig baut, niemand ein Härchen versengen können. Erst vor kurzem blies dieser orthodoxe Mann, der sich Goeze Johann Melchior Goeze, Hauptpastor zu St. Katharinen, + 1786. s.a. Lessing „Anti-Goeze“ und Andreas Urs Sommer „Die Kunst selbst zu denken“ nennt, auf der Kanzel wieder gegen den Papst und seinen Anhang Feuer; es tat aber keine andre Wirkung, als daß er sich die Backen wund blies und er dem kaiserlichen Gesandten eine Abbitte tun mußte. Als dieser Mann seinen geistlichen papiernen Thron bestieg, herrschte noch die löbliche Gewohnheit in Hamburg, vor jeder Predigt in einem Gebet den Papst und seinen Anhang öffentlich und feierlich zu verfluchen. Der Rat sah ein, daß dies zu unsern Zeiten eine große Ärgernis wäre, und befahl dem Herrn Hauptpastor, diesen Fluch inskünftige zu unterlassen. Die Liebe zum Fluchen war aber diesem Mann so an die Seele gewachsen, daß er gegen diese Eingriffe der weltlichen Macht in das Heiligtum eine förmliche Protestation eingab und, ohne die weitern Verfügungen seiner Oberherren abzuwarten, in der nächsten Predigt einen doppelten Keil [Pfeil?] auf den Papst und sein Reich von der Kanzel herabschleuderte; seine Donnerschläge sind aber zum Glück allezeit kalt. Der Rat ergriff nun das wirksamste Mittel, um den unartigen Mann Sitten zu lehren, und drohte ihm mit dem Verlust seiner fetten Pfründe. Der Herr Hauptpastor hatte Philosophie genug, um einzusehen, daß es besser für ihn sei, nicht zu fluchen, als zu hungern, und so war der Papst und sein Reich in den Kirchen der Reichs- und Hansestadt Hamburg gerettet. Obschon dieser Mann unzähligemal öffentlich und allgemein ausgepfiffen worden und seit zwölf bis fünfzehn Jahren der beständige Gegenstand des Spottes vom ganzen protestantischen Deutschland und zum Teil auch von seinen geistlichen Brüdern in Hamburg ist, so ist sein heiliger Eifer doch im geringsten nicht erkaltet. Gegen das Sittenverderbnis eifert er ebensosehr als gegen den Papst. Er ist ein abgesagter Feind von allen öffentlichen Belustigungen, aber gegen die Lustpartien hinter den Bettgardinen soll er sanftere Gesinnungen hegen. Die Theater sind ihm besonders ein scharfer Dorn in den Augen. Da der bessere Teil des hiesigen Publikums nur seinen Spaß mit ihm treibt, so gab es schon verschiedene sehr interessante Auftritte. Unter andern fand einst ein Engländer ein deutsches Originalstück auf dem hiesigen Theater so schön, daß er den Mann, der neben ihm saß, um den Namen des Verfassers fragte. Dieser Mann war ein sehr witziger Kopf namens Dreyer, Johann Mathias Dreyer, schrieb satirische Epigramme über die Religion, + 1769 welcher den Engländer gar ernstlich versicherte, der Herr Senior und Hauptpastor Goeze wäre der Verfasser dieses vortrefflichen Stückes. Der Engländer, voll Begierde, einen so großen Theaterdichter kennenzulernen, machte des andern Tages dem geistlichen Akteur seine Aufwartung, der sich über das Kompliment, welches ihm der Brite wegen der angedichteten Geistesgeburt machte, so sehr ärgerte, daß er Gift speien wollte. Da er ein handfester Mann und Lebensart überhaupt seine Sache nicht ist, so schmiß er den Engländer zur Türe hinaus. Herr Dreyer, der ihn in den April geschickt, begegnete ihm bald darauf auf der Straße. Ohne die geringste Erklärung gab ihm der Engländer eine Ohrfeige, daß er zu Boden sinken wollte. Demungeachtet spielte Herr Dreyer nachher dem antitheatralischen Herrn Pastor noch manchen ähnlichen Streich.


Ich hielt dich so lange mit diesem Pastor auf, um dir ein Beispiel zu geben, daß die protestantische Geistlichkeit nicht durchaus in Deutschland so wohlgezogen und tolerant ist als in Sachsen und in den preußischen Staaten. Überhaupt ist die Religion des großen Haufens in den Gegenden der Niederelbe lange nicht so helle als weiter oben.

Das mißverstandne Eifern gegen die öffentlichen Belustigungen trägt viel dazu bei, daß die schädlichen Winkelergötzungen hier so häufig sind und daß sich in einer so reichen Stadt von 90.000 Menschen kein Theater erhalten kann, indessen täglich in den Stunden, wo man gemeiniglich das Theater zu besuchen pflegt, zum Verderben der Familien viele tausend Gulden verspielt werden.

Seit meinem letzten Schreiben, lieber Bruder, tat ich einen Einfall tief in das sogenannte dänische Reich hinein. Schon im Holsteinischen, welches noch zum deutschen Reiche gehört, fiel mir eine Verschiedenheit in der Lebensart und den Sitten des Volks und dem Anbau des Landes auf. Als ich jenseits der Eider, welche die natürliche Grenze zwischen Deutschland und Dänemark ist, einige Stationen zurückgelegt hatte, fand ich einen Abstich zwischen diesem Lande und Deutschland, der so stark war als jener zwischen Bayern und Sachsen. Wenn man die Aufklärung, den Fleiß und die gute Zucht der Protestanten rühmt, so muß man auch einige Ausnahmen machen, so wie auch die Protestanten, wenn sie den Katholiken wegen ihrer Dummheit, Trägheit und Liederlichkeit Vorwürfe machen, große Ausnahmen machen sollten.

Die Dänen sind noch wenigstens um ein Jahrhundert hinter den meisten protestantischen Völkern Deutschlands zurück und um kein Haar besser als die Bayern und Portugiesen. Sie sind das finsterste, schwerfälligste und trägste Volk, das ich noch gesehen. Liederlichkeit, Bigotterie und Unverträglichkeit zeichnen es von den meisten Protestanten Deutschlands so stark aus, daß man auf einen Blick von der Unwirksamkeit der Religion auf die Besserung der Menschen, wenn ihr nicht oft zufällige Nebenumstände zu Hülfe kommen, überzeugt wird. Es gibt wohl unter den Geistlichen dieses Landes aufgeklärte und wackere Männer; allein im ganzen sind sie ebenso stolz, so intolerant und unwissend als die Pfaffen in Spanien. Ich sah Pastors, die auch im Äußerlichen den spanischen Priestern vollkommen gleich waren. Sie trugen die Brillen geradeso hoch über der Nase, trugen den Hals ebenso steif, warfen geradeso den Kopf zurück, sprachen vollkommen so durch die Gurgel und die Nase und schritten ebenso aufgeblasen daher wie die Priester von Barcelona oder Saragossa. Wenn sie über einer Predigt sitzen, so tun sie, als wenn sie mit der Erlösung des Menschengeschlechts schwanger gingen. Ich besuchte einen, den man für einen großen Botaniker ausgab, der aber nicht viel mehr als die Heidekräuter seines Vaterlandes kennt. Er brütete eben seine Sonntagspredigt aus. Es blieb lang unentschieden, ob er mir Audienz geben wollte. Nachdem ich mit seinen zwei Töchtern, den dümmsten und unartigsten Kreaturen, welche ich noch gesehen habe, die mir, aus Ungezogenheit oder falschen Keuschheitsbegriffen, nie ins Gesicht zu sehen getrauten, eine halbe Stunde von Wind, Wetter und Sonnenschein verplaudert hatte, kam ihre hohlaugichte, dunkelgelbe Mutter aus dem Studierzimmer ihres Herrn Gemahls und kündigte mir an, daß der Herr Pastor entsetzlich viel mit seiner Sonntagspredigt zu schaffen habe, daß er aber jetzt ein Stündchen verschnaufen wolle und ich die Ehre haben könne, mit ihm eine Pfeife Tobak zu rauchen. Ich stand wirklich an, ob ich diese Ehre annehmen wollte; denn daß ich einem groben Pastor zum Vehikulum seines Verschnaufens dienen sollte, brachte meine Eigenliebe wirklich in einen kleinen Aufruhr. Ich überwand mich aus Achtung für die Landessitten, die ich auch den Hottentotten schuldig wäre, und wie ich zur Tür hineingetreten war, erhob sich der Herr Pastor sehr langsam von seinem großen gepolsterten Stuhl und ließ mir Zeit genug, über den Hinterteil seiner zottichten Perücke, den Contour seiner breiten Schultern und die Draperie seines langen, in der Mitte zusammengebundenen Schlafrocks Betrachtungen anzustellen. Endlich kam er durch den Labyrinth seiner unzähligen Bücher, die teils auf Stühlen, teils auf Pulten um ihn her lagen und ohne Zweifel alle auf seine Sonntagspredigt Einfluß hatten, zu mir hervorgekrochen. In vier bis fünf Minuten waren wir schon am Ende alles Gespräches. Ich zwickte an allen möglichen Saiten, aber kein Ton wollte auf dem dicken Pastor einen Widerhall hervorbringen. Als er endlich selbst bemerkte, daß er mir durch sein Verschnaufen Langeweile machte, nahm er seine Predigt zur Hand und las mir einige Perioden vor, um mich zu „desennuyieren“. die Langeweile vertreiben Ich hörte kein Wörtchen, denn der Tobaksdampf, den er mir während des Lesens unter die Nase blies, brachte mich vollends aus der Fassung. Hierauf hatte er noch den grausamen Einfall, mir seinen „Schatz“, wie er es nennte, zu eröffnen. Das war ein Schrank, welcher die Handschriften aller seiner Predigten, in acht bis zehn dicken Folianten, enthielt. Wie er den ersten herauszog, lief mir ein kalter Schauder über den Rücken, der mir einen Katarrh befürchtend machte. Er sah, daß es mir nicht wohl bei der Sache ward, und tröstete mich damit, daß er mir nur die Texte seiner Predigten in dem Register vorlesen wollte. Ich hielt ein Register aus; wie er aber zum zweiten Folianten griff, nahm ich Stock und Hut und eilte zur Türe.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.