Abschnitt 6

Augsburg


Hofmeister: „Welches sind die Haupttugenden?“ Erster Eleve: „Glaub, Hoffnung und Liebe.“ - Hofmeister: „Erwecken Sie mir den Glauben, Graf Karl!“ - Graf Karl: „O mein Gott, ich glaube alles...“, usw. - Hofmeister: „Graf Max, erwecken Sie mir die Hoffnung!“ - Graf Max: „O mein Gott, ich hoffe alles...“, usw. - Hofmeister: „Graf August, erwecken Sie mir die Liebe!“ - Graf August: „O mein Gott, ich liebe alles...“, usw. Es war recht herzbrechend für die guten Eltern anzuhören, wie ihre Kinder den Glauben, die Hoffnung und die Liebe so hübsch nach dem Katechismus auswendig gelernt hatten. - Hofmeister: „Welches sind die Hauptlaster?“ - „Neid, Zorn, Unkeuschheit, Füllerei ...“, usw. Da fielen mir die Prälaten mit ihren roten dicken Köpfen auf, besonders einer, der mit einer faunischen Miene die Hand auf dem Schoß der gnädigen Frau liegen hatte... Hofmeister: „Welches sind die schweren Sünden in den Heiligen Geist?“ - „An einer erkannten Wahrheit zweifeln, in einem erkannten Irrtum verharren..., usw. Hofmeister: „Wieviel gibt es gute Werke, Graf Karl?“ Graf Karl: „Sieben; erstens: die Hungrigen speisen; zweitens: die Durstigen tränken; drittens: die Nackenden bekleiden; viertens: die Gefangenen erlösen...“, usw. Und das war nebst den Zehn Geboten Gottes und den fünf Geboten der Kirche alles, was die Sittenlehre anbelangt. - Also nur sieben gute Werke, Herr Graf! - Also für einen Herrn Grafen von 50.000 Gulden Einkünften ist es ein gutes Werk, keine Pflicht, den Hungrigen zu speisen! Also tut der Herr Graf ein gutes Werk, wenn er seinen Spitzbuben die Gefängnisse öffnet! - Es war alles buchstäblich so, Bruder, wie ich dir's niederschreibe, es ist nichts übertrieben, nichts verkleinert. Von Pflichten der Größern gegen die Kleinern, von dem wollüstigen Geschäfte, andre glücklich zu machen, von sündlicher Verschwendung des mit Schweiß und Tränen benetzten Geldes der Untertanen, von Großmut, Sanftmut und ähnlichen Dingen war so wenig die Rede als in dem wissenschaftlichen Teil der Prüfung von landwirtschaftlichen und statistischen Kenntnissen.


Der Hofmeister führte sodann seine Zöglinge triumphierend zu dem Schwarm der Zuhörer, die ihn und die jungen Herren mit einem verwirrten Gemurmel von Glückwünschen empfingen. Der Zug ging hierauf sehr feierlich zur Tafel, wo ich im Punkt der schönen Sitten meine Bemerkungen über die Erziehungsart der jungen Herren fortsetzen konnte. Eine gewisse grimassierende Steifheit war mir in ihren Bewegungen schon beim ersten Anblick aufgefallen, aber der Sprachmeister machte mich erst bei Tische auf das Detail ihrer schönen Manieren aufmerksam. Da wußten sie alle die Löffel, Messer und Gabeln gar methodisch zu beiden Seiten der Teller auszuteilen, die Servietten, einer wie der andre, fein durch das oberste Knopfloch zu ziehn, gerade eine Spanne weit vom Tisch, mit steifen Rücken und die Hände züchtiglich neben die Teller gelegt, dazusitzen, und wenn sie die Nase putzen wollten, es gar unsichtbar mit dem Schnupftuche unter der Serviette zu tun. Die Kaffeetassen nahmen sie mit dem Daumen und dem Zeigefinger und streckten die übrigen Finger, alle gleich, sehr artig neben aus. Keiner durfte den Mund auftun, als wenn er angeredet wurde. Wenn sie standen, so mußten die Füße fein fest auf einem Fleck und nicht gar weit auseinander stehn und die eine Hand in der Weste und die andre in der Rocktasche stecken. - Der Sprachmeister sagte mir, die ganze Familie und der Hofmeister wären innig überzeugt, daß kein Mensch zu Paris anderst bei Tische säße, anderst die Tasse nähme oder anderst die Nase putzte. Er werde oft versucht, dem Benediktiner bei seinen Lektionen von der Art unter die Nase zu lachen, wenn er ihm nicht subordiniert wäre.

Wenn nun auch diese junge Herren auf die Universität oder auf Reisen gehn, so geschieht es unter der Aufsicht ihres jetzigen Hofmeisters, der ihnen alles, was sie sehen, durch seine alte Mönchsbrille zeigt und alle Kenntnisse, die sie allenfalls sammeln, auf den dürren Stamm seiner ehemaligen Lehren einpfropft. Welche Vorbereitung wird nicht erfodert, um mit Nutzen reisen zu können? - Und wenn nun endlich der junge Erbherr die Regierung seines Landes antritt, kann es besser werden, als es ist?

Dank dem allweisen Schicksal oder der allgütigen Vorsicht, die in den Regierungen der Länder nur gar zu sichtbar die Hände hat! Wenn man den Anbau dieser Gegenden des Schwabenlandes betrachtet und weiß, wie wenig von den Herren desselben für sie getan wird, so muß man glauben, es wache immer ein mächtiger Genius über ihnen, der allezeit das, was die Regenten verderben, zum Teil wieder gutmachen muß. Lebe wohl.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.