Abschnitt 5

Augsburg


Wenn sich die kleinen deutschen Herren vernünftig wüßten einzuschränken, wenn sie nicht größer scheinen wollten, als sie sind, wenn sie mehr Liebe zu ihren Untertanen hätten und nicht so fühllos gegen die sanftern Empfindungen der Menschlichkeit und gegen die Reize der Musen wären, so könnte die Kleinheit dieser Staaten selbst ihr Glück sein. Wenngleich ein kleiner Bauernstaat für manche Bedürfnisse Geld muß ausfließen lassen, so kann doch, wenn der Herr nicht übermäßigen Luxus liebt, ein guter Teil des Landesertrags, in Betracht des kleinen Kreises, in einem viel engern und also vorteilhaftern Umlauf erhalten werden, wenn das Höfchen seinen und den von dem seinigen unzertrennlichen Vorteil seiner Untertanen versteht und die Einnahme wieder in die gehörigen Kanäle zurückgießt. Da die meisten Herren dieser Gegend katholisch sind und ihren jüngern Söhnen die reichen Stifter der Nachbarschaft offenstehn, so haben sie sich wenig um Apanagen Bezüge der Mitglieder eines Fürstenhauses zu kümmern. Viele derselben sind selbst geistlich und können also durch ihre gesetzliche Leibesprodukten ihren Untertanen niemals zur Last fallen. Aber hier, wo vom Glücke der Völker die Rede ist, kommen diese Herren doch nicht in Anschlag. Wegen Mangel der Familienbande betrachten sie sich bekanntlich nie als Angehörige ihres Landes, sondern als Kommandanten, die da sind, um das Volk zu brandschatzen ... Die Entbehrlichkeit des Soldatenstandes, die Leichtigkeit, das Ganze zu übersehen, die Entfernung von dem politischen Gezerre der größern Staaten, die Sicherheit, daß ihre Regenten keine großen Eroberer spielen können, und noch viele andre Verhältnisse könnten diesen kleinen Völkerschaften zustatten kommen, wenn ihre Häupter gesünder wären.


Allein, die Höfe von Stuttgart und Karlsruhe ausgenommen, habe ich zu meinem großen Leidwesen keinen in Schwaben gefunden, der das Glück seiner Untertanen als seinen Beruf betrachtete. Die andern scheinen im Wahn zu stehn, daß die Völker wegen ihnen und nicht sie wegen dem Volk geschaffen seien. Die Kameralisten Finanzbeamter eines Fürstenhofes dieser Herren, deren ich einige sehr genau kennenlernte, machen einen sehr wesentlichen Unterschied zwischen dem Interesse des Hofes und jenem des Volkes, und wenngleich der Untertan, wie ich dir schon gesagt, gegen die gröbste Tyrannei sicher ist, so ist er es doch nicht gegen die feine Beutelschneiderei der Finanziers.

Die Erziehung der meisten dieser Herren ist zu abscheulich, als daß es besser sein könnte. Sie ist fast durchgehends in Händen von Pfaffen, teils Mönchen, deren Kenntnisse in ihre Kapuzen eingeschränkt sind, teils jungen Abbés, die soeben von der Schule gekommen und durch die Familie ihres Eleven ihr Glück machen wollen. Und worin besteht nun die Moral des jungen Herrn? Der Mönch gewöhnt ihn, die Verehrung des heiligen Franziskus Franz von Assisi, Gründer des Franziskanerordens, Benediktus Benedikt von Nursia, „Vater des abendländischen Mönchtums“ oder Ignatius Ignatius von Loyola, Gründer des Jesuitenordens, die öftern Bestellungen von Messen, die Skapuliere Skapulier: Schulterkleid mancher Mönchsorden, Rosenkränze, Almosen für Klöster und dergleichen mehr für die wesentlichsten Pflichten zu halten und zu wähnen, man könne damit eine Menge Vergehungen andrer Art wieder gutmachen. - Und der Abbé? Dieser ist gemeiniglich ein junger Mensch, der auf der Schul seine ganze Philosophie und Moral von Mönchen geholt hat, ans Kriechen gewohnt ist, sich zum Schuheputzen gebrauchen läßt und aus Furcht, beim Regierungsantritt des jungen Herrn sein gehofftes Brot zu verlieren, in den kritischesten Jugendjahren ihm gerne durch die Finger sieht. Beide vergessen natürlich nicht, dem heranwachsenden Regenten zu sagen, daß es Sünde sei, die Menschen wie die Fliegen totzuschlagen, auf offener Straße zu rauben, die Weiber ihrer Untertanen durch Jäger oder Husaren aus den Betten auf das Schloß holen zu lassen und dergleichen. Aber das feinere sittliche Gefühl, Achtung für jedes Geschöpf, das ihnen ähnlich sieht, Empfindungen für höhere Tugenden, als die in den Legenden zum Muster dargestellt werden, weiß keiner dieser Herren in dem Zögling rege zu machen. Und sind die Klöster und Schulen auch der Ort, die Welt, die zarten Nuancen der menschlichen Pflichten, und besonders die Erfordernisse zu einem guten Regenten, kennenzulernen?

Ich hatte Gelegenheit, einer Prüfung beizuwohnen, die der Hofmeister von den Söhnen eines ansehnlichen schwäbischen Herrn mit denselben sehr feierlich angestellt. Die Eltern, welche sich wenigstens durch den Eifer, ihre Kinder gut zu erziehen, vor vielen andern schwäbischen Häusern auszeichnen, nahmen viel Teil daran und hatten alle Verwandten und Freunde dazu gebeten. Der Hofmeister, ein Benediktiner, bot alle Prälaten und Prioren in der Gegend auf, um den Triumph seiner Erziehungskunst glänzender zu machen, die dann um so zahlreicher sich einfanden, als bei diesem Anlaß ein fetter Schmaus zu erwarten stand. Die Zöglinge waren so zwischen den vierzehn und achtzehn Jahren. Der Anfang wurde mit der lateinischen Sprache gemacht, und der ältere dieser Jünglinge las eine lateinische Rede ab, die er nach dem Vorgeben verfaßt haben sollte, die aber offenbar das Werk seines Lehrers war, welches dieser auch in seinen Blicken und Mienen während des Ablesens zu gestehen schien. Die Rede war durch alle die bekannte Figuren durchgearbeitet, und alle Fragen, Ausrufungen, Invektionen Schmähreden usw. waren gegen die neuern Philosophen gerichtet, die der Religion und der menschlichen Gesellschaft überhaupt den Untergang androhen. Ich war sehr aufmerksam, weil ich einigemal den Voltairius Voltaire, franz. Philosoph und Aufklärer, † 1778 und Rousseauvius Rousseau, franz.-schweiz. Philosoph, † 1778 mit aller rhetorischen Wut bestürmen hörte. Ich konnte nicht begreifen, was z. B. Rousseau, dessen Moral im ganzen, besonders für Regenten, vortrefflich ist und der, auf der guten Seite genommen, in diesen Gegenden zum Besten der Menschheit wichtige Revolutionen machen könnte, einem jungen schwäbischen Herrn oder seinem Hofmeister, die ihn zuverlässig weder in Person noch in seinen Schriften kennen, Leids getan haben sollte. Einer unserer Landsleute, der Sprachmeister der jungen Herren, durch den ich Eintritt fand, half mir aus dem Traum und sagte mir, daß es seit mehrern Jahren unter den Geistlichen dieser Gegenden Mode sei, dem Voltaire und Rousseau allen erdenklichen Unsinn aufzubürden und auf den Kanzeln und bei jeder öffentlichen Gelegenheit ihren Witz an denselben zu schärfen ... Nachdem die Rede gehörig beklatscht und die Komplimente und Gegenkomplimente verhallt waren, schritt man zu der Geschichte. Da ging's durch die vier Universalmonarchien, und die jungen Herrn nennten eine Menge babylonischer, assyrischer, chaldäischer, ägyptischer, persischer und andrer Regenten der Vorwelt, von denen sich nichts weiter sagen läßt, als daß ihre Asche mit der Erde, die wir bewohnen, vermischt ist. Und alle die Monarchien drehten sich um das Alte Testament herum und wurden auf den Salomonischen Tempel aufgehaspelt. In Griechenland wußte man nichts als die Sieben Weisen mit ihren Sprüchen aufzufinden, und hier, wie in dem republikanischen Rom, war weder von den großen Tugenden noch von der Kultur, noch von den Ursachen des Steigens und Fallens dieser Völker die Rede. In den Augen eines Mönchen kann ein Heide keine Tugend haben, und die Aufklärung, die Philosophie dieser berühmten Nationen war eben der Gegenstand, gegen den die Rede mit ihrem Feuer spielte. Dafür schien der Hofmeister als Lehrer der Geschichte gar keinen Sinn zu haben. In der Kaisergeschichte war weiter nichts zu melden als die zehn oder zwanzig Verfolgungen der Christen. Ich weiß nicht, ob es noch mehrere waren, ob ich schon der römischen Geschichte, wie du weißt, eben nicht fremd bin. Man nennte alle nennbare Märtyrer, die unter diesen Kaisern litten. In der neuen Geschichte spielten natürlicherweise die Ahnen der jungen Herren die Hauptrolle; wie sie Klöster gestiftet und begabet, die Kreuzzüge mitgemacht usw. Hierauf kam man zur Geographie, und da wußte man von Arabien, Abessinien, Monomotapa Bantureich in Ostafrika, Nubien, Monömugi Königreich in Ostafrika und den Ländern, die wir am wenigsten kennen, am meisten zu sprechen. Nachdem man zur Prüfung einige wohlgeübte Exempelchen der Rechenkunst auf eine Tafel gekratzt hatte, kam endlich die Reihe an die Glaubens- und Sittenlehre. Es wurde in Behandlung des erstern Gegenstandes so viel von den untrüglichen Kennzeichen der alleinseligmachenden Kirche gesprochen, daß ich bald davongelaufen wäre. Ich hatte in einem Lande von vermischter Religion wie dieses solche harte Ausdrücke um so weniger erwartet, da die Toleranz der herrschenden Sekten ein Reichsgrundgesetz ist. Die moralische Prüfung war folgende:

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.