Abschnitt 4

Augsburg


Der Grund dieses widersinnigen Betragens liegt zum Teil in der Regierungsform. Die Patrizier, welche nebst einem Ausschuß der Kaufleute die Stadt aristokratisch beherrschen, können es nicht verdauen, daß der Plebejer durch die Mittel, die er sich durch seinen Fleiß erwirbt, das Haupt über sie emporheben soll. Sie hassen und verfolgen den Fleiß in seiner Werkstätte aus einer elenden Eifersucht und sprechen ihm in der Ratstube aus affektiertem Patriotisme das Wort. Ein gewisser Schüle, welcher durch eine beträchtliche Cottonfabrik Baumwollgewebe sein Glück gemacht, ist ein trauriges Beispiel davon. Mit den Millionen, die er sich durch seinen Fleiß erworben, kann er wohl prächtiger leben als die Patrizier mit ihren leeren Titeln, und deswegen ist er der unsinnigsten Verfolgung ausgesetzt.


Der Hauptgrund dieser erbärmlichen Politik liegt in der Verderbtheit des Ganzen. Neun Zehnteile der Einwohner sind das infamste Kanaille, das man sich denken kann, das immer bereit ist, sich selbst auf das erste Signal aus Religionshaß zu erwürgen, das den Arbeitslohn einer Woche richtig auf den Sonntag in die Bierschenke trägt und an die Größe seiner Vorfahrer nicht eher denkt, als wenn das Bier in seinem Kopfe gärt. - Ich hätte dir schon lange sagen sollen, daß die Regierung gemischt und zur Hälfte katholisch und lutherisch ist. Im ganzen mögen die Katholiken zahlreicher sein als die Protestanten. - Es ist platterdings unmöglich, alles Lächerliche, was hier der Religionshaß erzeugt, in einer Satire zu erschöpfen. Täglich hast du einen neuen unerwarteten Auftritt zu erwarten, der dich lachen und fluchen macht. Es kann kein Spinngewebe an einem öffentlichen Gebäude weggeräumt werden, ohne daß sich die Religion ins Spiel mische. Die Katholiken, welche natürlicherweise erhitzter sind als die Protestanten, halten sich einen sogenannten Kontroversprediger, der zu gewissen Zeiten die eine Hälfte von Augsburg lachen und die andere rasen macht. Der, welcher jetzt diese Rolle spielt, ist ein Jesuit und der beste Hanswurst, den ich von seiner Art gesehen. - Die tiefe Armut und Liederlichkeit des Pöbels macht ihn gegen die Rechte unempfindlich, die er der ursprünglichen Verfassung gemäß behaupten sollte. Die Aristokraten wären so übermächtig nicht, wenn das Volk mehr Sinn und Gefühl für seine eigentliche Konstitution hätte. Aber die Freiheit der meisten hiesigen Bürger ist so wohlfeil als die Jungferschaften ihrer Töchter, welche die hiesigen Domherren, deren Pfründen ohngefähr 2.000 Gulden eintragen, jährlich dutzendweis kaufen.

Das übrige Zehnteil der Einwohner besteht aus einigen Patrizierfamilien, unter denen es sehr artige Leute gibt, aus einem Dutzend Kaufleute, einigen Künstlern und der Geistlichkeit. Unter diesen herrscht aber zu viel dumme Verschwendung, welcher auch der Klügere nicht ganz entsagen darf, weil sie allgemeine Sitte ist, und zu viel Privateifersucht, als daß wahre, wirksame Vaterlandsliebe unter ihnen Wurzel fassen könnte. - In dieser Stadt, die allerdings drei Stunden im Umfang hat, wohnen kaum 36.000 Menschen, und das ganze eintragende Kapital derselben beträgt schwerlich über fünfzehn Millionen Gulden. Ihre Abnahme wird von Jahr zu Jahr merklicher, und wenn ihr nicht sehr günstige Umstände zu Hülfe eilen, so enthält sie im künftigen Jahrhundert nichts als einen Haufen Bettler, deren Regenten in den geraubten und mit Flittergold verbrämten Lumpen ihrer Untertanen paradieren.

Die Stadt ist wirklich schön und das Rathaus eines der schönsten Gebäude, die ich auf der ganzen Reise hieher gesehen. Der Magistrat läßt sich auch die äußere Verschönerung der Stadt, man sollte glauben, um so mehr angelegen sein, als die innern Kräfte derselben abnehmen. Die Schminke der ausgedienten Buhlschwester täuscht wohl den vorübergehenden Fremden, aber wer sie am Nachttische besucht ... Vor kurzem ließ das Bauamt auf Befehl des Rates eine Verordnung ergehen, daß die Dachrinnen, welche das Wasser sonst auf die Gassen spritzten und das Pflaster verdarben, an den Häusern herab sollten geführt werden. Eine Gesellschaft von Kaufleuten protestierte dagegen, und in ihrer Vorstellung an den Rat wurde gesagt, die Römer wären eben nicht auf der höchsten Stufe ihrer Größe gewesen, als der Appische Weg Via Appia von Rom nach Capua gemacht worden. - Ich weiß nicht, ob der Konzipient Verfasser seinen Spaß trieb. Man sagt sonst: Jede Vergleichung hinkt. Neben den Römern sind die Krücken der Augsburger gar zu sichtbar.

Die Stadt bekömmt das Trinkwasser größtenteils aus dem Lech, welcher in einiger Entfernung vorüberfließt. Das Werk, wodurch das Wasser in der Stadt verteilt wird, ist wirklich bewundernswürdig. Der bayrische Hof kann dieses unentbehrliche Bedürfnis derselben abschneiden und setzt sie unter Androhung dieser Katastrophe öfters in Kontribution. Er hat nebst dem noch verschiedene Mittel in Händen, den hohen Rat in einer gewissen Abhängigkeit zu erhalten. Um sich gegen die Unterdrückung dieses Hofes sicher zu setzen, sucht die Stadt den Schutz des Wiener Hofes und macht sich auf dieser Seite ebenso abhängig als auf der ersten, und die Staatskunst des hochweisen Rates ist also ein Ball, womit beide Höfe unter sich spielen. - Der kaiserliche Minister für den schwäbischen Kreis residiert gemeiniglich hier und versichert seinem Hof einen immerwährenden Einfluß. - Es liegen immerfort auch Östreicher und Preußen auf Werbung hier, und die Parteilichkeit der Stadtregierung für die erstern ist sehr merklich. - Im Krieg von 1756 der Siebenjährige Krieg war die Bürgerschaft für beide Höfe in zwo gleiche Parteien geteilt. Die Katholiken betrachteten den Kaiser und die Protestanten den König von Preußen als ihren Schutzgott, und bald hätte der Religionshaß hier einen blutigen Bürgerkrieg veranlaßt.

Der Bischof, welcher sich von dieser Stadt benennt, aber zu Dillingen residiert, hat ohngefähr 200.000 Gulden Einkünfte. Leb wohl.

Unter allen Kreisen des deutschen Reiches ist der schwäbische am meisten zerstückt. Er zählt nicht mehr als vier geistliche und dreizehn weltliche Fürstentümer, neunzehn unmittelbare Prälaturen und Abteien, sechsundzwanzig Graf- und Herrschaften und einunddreißig Freie Reichsstädte. Die sogenannten kreisausschreibende Fürsten sind der Bischof von Konstanz und der Herzog von Württemberg, welcher letztere aber allein das Direktorium der zu verhandelnden Kriegssachen hat.

Das Gemische dieser vielen Regierungsarten und Religionssekten, der Druck der Größern auf die Kleinern, die Dazwischenkunft des kaiserlichen Hofes, welcher viele zerstreute Stücke Landes unabhängig vom Kreise in Schwaben besitzt und zufolge eines dem Erzherzogtum Östreich eigenen Privilegiums seine Besitzungen in demselben auf verschiedene Arten erweitern kann: alles das gibt der Wirtschaft des Landes und dem Charakter der Bewohner eine sonderbare Gestalt. In vielen Gegenden sieht man auf einigen Poststationen die höchste Kultur mit der äußersten Verwilderung, einen ziemlichen Grad von Aufklärung und Zucht mit der tiefsten Unwissenheit und Bigotterie, Spuren von Freiheit mit der tiefsten Unterdrückung, Nationalstolz mit Verachtung oder Gleichgültigkeit gegen das Vaterland und alle gesellschaftlichen Verhältnisse auf die auffallendste Art miteinander abstechen.

Offenbar sind die größern Länder in Schwaben, wie das Württembergische, Östreichische und Badensche, am besten gebaut. Das ganze Schwabenland mag in der Größe beinahe neunhundert deutsche Quadratmeilen betragen, in welchem Umfange ohngefähr zwei Millionen Menschen wohnen, von denen über die Hälfte den drei bemeldten Häusern zugehöret, ob sie schon bei weitem nicht die Hälfte des ganzen Landes besitzen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.