Am 25sten September 1792. Dienstag Nachmittags 4 Uhr.

Diese Uferschlüchte, meine Gute, die man hiesigen Ortes Liethen*) nennt, sind wahre Asyle für einen jeden, der das Bedürfnis fühlt, allein zu seyn. Ruhiger, sicherer, ungestöhrter könnte der liebe menschenscheue Jean Jaques weder seiner Peter- noch in seiner Pappelinsel seinen Träumereien nachhängen, als ich es kann in diesen vertraulichen Winkeln. Es sind Erdfälle eigentlich; bewerkstelligt durch die vereinigte Kraft wühlender Fluthen von unten, und erweichender Regenbäche von oben; abgerundet aber vermöge des rastlosen Hanges der Materie, sich dem Zustande absoluter Ruhe möglichst zu nähern, in mancherlei sanfte Formen; und durch den leisen Hauch der Vegetation überzogen mit einem dichten Filzgewebe mannichfaltiger Gräser und Moose. Eine der Liethen ist der Hütte, in welcher ich wohne, beinahe grade gegen über. In ihrer Mitte befindet sich eine Art von Brunnen, zu welchem die Mädchen des Dorfes auf einem ziemlich steilen Pfade herunter klimmen und schöpfen. Vor dem Brunnen rechter Hand windet sich ein schmaler Steig das steile Ufer weiter hinunter, und endet in eine zweyte Schlucht, die noch ungleich einsamer und abgeschiedner ist, als die erstere. Diese hab’ ich bald anfangs zu meiner Lagerstätte gewählt; und seit ich in einem ihrer Winkel einen Quell entdeckte, der aus dem weißen Sande ganz silbern hervorquirlt, ist sie mir so heilig und lieb, wie nur Horazen seine Blandusia mag gewesen seyn, und Petrarka’n seine Vaucluse. Gestärkt durch einen recht wollüstigen Mittagsschlaf, den ich geschlafen habe auf duftendem Quendel in der Nähe meiner lieben Quelle, und erfrischt durch einen Trunk aus ihrem klarsten Gespringe, kehr’ ich zu meinem Papier zurück, um dir den Rest meiner Geschichte zu erzählen.

Hartmuth fühlte kaum festen Boden wieder unter sich, als er fragte, weß der Boden wäre? Des Königs! war die Antwort; und sogleich präsentirten sich ihm die beiden Herren zu Rosse, als königliche Pfand- und Pachtträger, die zugleich mit diesem Grund und Boden auch das Recht erpfändet und erpachtet hätten, unser Schiff und Gut ausschließend vor allen zu retten, zu bergen, zu löschen; nebenher freilich auch zu dezimiren, und nach Maasgabe der Umstände auch wohl zu halbiren. Während Hartmuth mit diesen wichtigen Männern in Unterhandlungen begriffen war, die mich herzlich ennuyrten, sah ich mich unter dem ehrlichen Landvolke um, und erkundigte mich, ob sie nicht was zu essen bei sich hätten, oder wenigstens ein gutes Schlückchen. Sogleich holte der eine seinen Kober herbei, zog einen mächtigen Brocken schwarzen Brodes nebst einem Schnapsfläschgen hervor, und präsentirte mir beides. Ohne Umstände langt’ ich zu, und du kannst mir glauben, Yse, es mundete deinem Volker fast so gut, wie die Rahmwaffeln, mit denen du den Abend vor seiner Abreise ihn traktirtest, und wie der Rheinwein, den du ihm einschenktest. - Meine Börse hatt’ ich geborgen. Was konnt’ ich also wohl angelegentlicheres haben, als allen Brantewein und alle Brodbrokken, die auf dem Platze zu haben waren, zusammenzukaufen, und die Genossen meiner Leiden und Freuden damit zu erquicken. Da standen sie, gossen den edlen Fusel zu ganzen Ströhmen in ihre verschrumpften Eingeweide hinunter, und da die gutherzigen Bauersleute ihnen nun auch ihren Abraham Berg**) spendirten, so war bald alles Herzleid vergessen.


„Vor Sonnenuntergang, fing Hartmuth jezt an, wird sich der Sturm nicht legen; und vor übermorgen frühe wird dem Schiffe nicht beizukommen seyn. Für heute also und für morgen, Jungens, ist Feiertag. - Auf ins Quartier!“ - Das war fröhlich Botschaft. Schiffer und Volk beschlossen, wie billig, in dem nächsten besten Dorf zu bleiben. Mir geneigten die Herren Pfandträger ihre Hausbequemlichkeiten anzubieten. Da ich aber noch einen Zahn auf sie hatte, der Ton ihrer Einladung mir auch ziemlich laulicht klang, so verbat ichs höflichst. „Herr, sprach der Bauer, der mir auf mein ehrlich Gesicht (denn den Beutel hatt’ ich damalen noch nicht hervorgezogen) seinen Kober spendirt hatte, ich dächte, er quartire sich bei unserm Pastor ein.“ - Nun weißt du, Liebe, daß ich zu der Gastfreiheit und christlichen Liebe derer Herren, die diese Tugenden predigen, mein Tage kein recht starkes Zutrauen hatte. Ich nahm also auch diesmal von des Bauern Vorschlag keine Notiz, sondern fragte ihn, wo er, er selber wohne? „Drüben, sprach er, in den Häusern, die dort das Ufer herübergucken.“ - Ich schaute hin. Das Ufer war jäh; Arkonas Kreidewand in der Nähe; die Lage stand mir an. „Freund, sagt’ ich, könnte er mir wohl Quartier geben?“ - „Warum nicht, wenn der Herr sich hat behelfen gelernt!“ - Richtig war der Handel. Ich umarmte meinen wackern Hartmuth, schüttelte den Jungen die Hand, machte den Herren zu Roß meinen Bückling, und schlenderte rasch hinter Hans Hübnern drein. Das Ufer krümmte sich mächtiger, als ich mirs vorgestellt hatte; mithin verlängerte der Weg sich über meine Erwartung, und ward auf die Länge mir herzlich sauer. Erst gegen Mittag langten wir an. Hübners Hausfrau, ein garstiges, übrigens gar freundliches Mütterchen, wunderte sich höchlich über den nassen Gast, den ihr Hans ihr mitgebracht hatte. Dem raschen Hannchen war es aber eben recht. Mit holder Freundlichkeit fragte sie, was dem fremden Herrn beliebe? - „Nichts, Kinder, sagt’ ich, nichts in der Welt, als was Trocknes auf dem Leibe, und was Warmes drinnen.“ Sogleich schloß Mütterchen ihre Kiste auf, und zog hervor: ein paar leinene Hosen; ein kalmankenes Kamisol, schimmernd mit allen Farben des Regenbogens; und ihres Hansen Staats- und Sonntagsrock, dessen größte Pracht in einer bis zum Saum hinunter laufenden Reihe kleiner zinnerner Knöpfe bestand. Ich ließ mir noch ein grobes reines Hemde dazu geben; Mütterchen und Mütterchens Hanne entfernten sich, und binnen wenig Minuten erschien ich in einem Kostüm, darinnen du, Liebe, mich einstens sehen sollst. Denn ich habe Hübnern die ganze Bescherung abgekauft; den blauen Sonntagsrock ausgenommen, den er nicht missen wollte, weil er mit seiner Mieke darin vor der Traue gestanden.

Während ich meine Toilette machte, beschickten die Frauen die Küche. Ich aß, wie der Homerschen Helden einer, trank einen tapfern Schluck dazu, und warf, wie ich ging und stand auf meiner Streu mich nieder, auf welcher Mutter Hübnern mich sorglich zudeckte. Weich, wie kein Eiderdunenbette, war mein Strohlager. Schnell entschlief ich. Eisern war mein sechszehnstündiger Schlaf; süß über alle Beschreibung mein Erwachen.

Sechs Uhr frühe mocht’ es seyn, als ich die Augen aufschlug. Eine Glorie von Licht strömte mir entgegen. Im Golde der aufgegangenen Sonne brannten Estrich, Decke und Wände meines ärmlichen Zimmers. Gestärkt fühlt’ ich mich in jeder Faser; gestählt in jeder Muskel; in jeder Ader kochte, in jeder Nerve zitterte zwiefaches glühendes Leben. Auf sprang ich, und öffnete mein Fenster. Da flammte Gottes majestätische Sonne mir entgegen... groß, herrlich, feierlich... stillruhend ihre glutrothe Scheibe auf dem düsterblauen Meere. - Die Stürme waren hinübergezogen. Die See glatt, wie Oel. Der Himmel ein gegossener Spiegel. Wie elektrischer Strahl durchzuckte mich die Wonne des Seyns, die Süßigkeit des Lebens, das überschwenglich köstliche Gefühl, daß ich noch sähe, hörte, empfände, dächte, liebte. - Unwillkürlich bogen sich meine Knie - doch dies Gefühl ist zu heilig, um ausgesprochen zu werden.



*) Merkwürdig ist es (und ein Belag mehr zu Brigants, Vallenceys und anderer Behauptung, daß es nur Eine Sprache, so wie nur Ein Alphabeth auf dem Erdboden gebe), daß auch die Einwohner der Pyrenäen mit diesem Worte einen Erdfall oder eine Uferschlucht bezeichnen. Siehe Ramond de Carbonniers meisterhaft beschriebene Reisen in die Pyrenäen.

**)Der gemeinste Taback in diesen Gegenden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines Schiffbrüchigen