Briefe eines Nordamerikaners aus und über Russland

Die Russische Flotte seit Peter I
Autor: Pelz, Eduard (1801-1876), Erscheinungsjahr: 1849
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Flotte, Despotie, Freiheit, Völkerfreiheit, Krusenstern, Seekadetten, Mietlingschaft
An Georg A. zu Washington. St. Petersburg, 28. April 1849.

Als wir uns vor dem Antritt meiner Reise nach Russland trennten, waren ihre letzten Worte, mein lieber A.: „Ein scharfes Auge auf die russische Flotte!“ — Der Inhalt dieses Briefes mag entscheiden, ob ich darauf bedacht gewesen, Ihrer Anforderung zu genügen.

Lassen Sie mich kurz über das Historische meines Gegenstandes hinweggehen, da Sie gewiss kein spezielles Eindringen in einzelne Erscheinungen beanspruchen. Zunächst wird Sie wohl der eigentliche Grund jener befremdlichen Tatsache interessieren, dass ein Binnenvolk dermalen mit einer Doppel-Flotte prahlt, namentlich wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, dass in den bisherigen geschichtlichen Annahmen starke Irrtümer befindlich sind. Allgemein gilt Peter I. als der alleinige Schöpfer der russischen Flotte, indessen steht gleichwohl fest, dass schon der Zar Alezej, Vater Peters I., 1669 Seeleute von Amsterdam kommen ließ und ein Schiff mit denselben bemannte. Ein Plan zur Kultivierung Russlands, wobei Schifffahrt und Handel eine Hauptrolle spielen mussten, hat bereits jenem Zaren Alexej vorgelegen oder vorgeschwebt: dies geht aus geschichtlichen Nachweisungen bis zur vollen Gewissheit hervor. Wenn sonach Peter I. den schon von seinem Vater angebahnten Weg verfolgte, so würde ihm keineswegs der alleinige Ruhm gebühren, selbst im Falle nicht zu erweisen wäre, dass eigentlich dem tüchtigen Admiral Cruys die Organisation des russischen Flottenwesens zuzuschreiben ist, ohne welche alles aus vollständige Hilflosigkeit hinausgelaufen sein würde. Diese trat sogleich ein, als nach Peters I. Tode Russen sich an die Spitze des Seewesens stellten, und erst als Katharina II. abermals der Ausländer sich bediente, gelangte die russische Flotte wieder zu einigen Erfolgen. Unter dem vorigen Kaiser Alexander geriet die russische Marine aufs Neue fast ganz in Verfall, denn die Regierung lag in den Händen der Aristokratie, und Russen standen an der Spitze des Seewesens. Kaiser Nikolaus kokettiert namentlich auch gern mit seiner Flotte und sucht sie dazu zu benützen, um dem von ihm beherrschten Koloss auf tönernen Füßen Respekt zu verschaffen durch Aufführung von Staatskomödien und Staatsdemonstrationen. Allein selbst wenn es ihm gelänge, durch russische Befehlshaber das zu erlangen, was unter Peter I. und Katharina II. durch Ausländer erreicht wurde, so würde das Ganze dennoch als Körper ohne Seele erscheinen, indem Russland keine Küsten und durchaus keinen Seehandel besitzt, mithin zur Erziehung von tauglichen Matrosen die Gelegenheit mangelt und das Innere eben nur Rekruten und damit Maschinen liefert, die vielleicht zu leidlichen Soldaten geschult, nimmermehr jedoch zu tüchtigen Seeleuten einexerziert werden können. Nebenbei lastet auch auf den geringen Küstenstrecken, die Russland besitzt, obendrein der harte Druck des Despotismus, und es wird dadurch stets wieder heruntergestimmt im Geist der Bevölkerung, was die Beschäftigung auf der See etwa emporgehoben; die zum ganzen Matrosen unumgänglich notwendige, freiheitatmende Keckheit und Kühnheit, die unerlässliche Selbständigkeit, kann nimmermehr unter autokratischer Faust gedeihen.

Die gesamte russische Seemacht besteht dermalen in noch nicht vollen 400 Fahrzeugen mit etwa 6.000 Kanonen und etwas mehr als 50.000 Mann Besatzung, die Matrosen mitbegriffen. Darunter sind jedoch mehr als 100 Kanonenboote, zur sogenannten Scheerenflotte gehörend, befindlich, was indessen immer noch eine auf den ersten Anblick imposant genug erscheinende Seemacht übrig lässt, gegen die unsre nordamerikanische Flotte mit ihren etwa 80 Fahrzeugen und etwas über 2.000 Kanonen fast ohnmächtig auftritt. Nur wenn man weiß, was diese 80 Fahrzeuge vermöchten in einem Kampfe mit russischen Schiffen, wenn man die unerschütterliche Überzeugung gewonnen, dass diese anscheinend geringfügige Seemacht mehr als hinreichend sein würde zur vollständigen Vernichtung der russischen Dekorationsmasse, und wenn dazu gerechnet wird, dass Amerika stets die doppelte Anzahl von Schiffen vorrätig hält, dass binnen 6 Monaten mindestens 120 Kriegsschiffe zu den obigen gefügt werden können, ganz ungerechnet die Tausende von Privat-Dampfbooten und Privat-Schiffen, welche sämtlich für den Krieg hergestellt werden können, weil ihr Bau schon darnach eingerichtet sein muss, vermöge eines weisen Gesetzes, nur wenn dies alles berücksichtigt wird, sinkt die pomphafte Staffage der Autokratie gegen die Gediegenheit des Freistaates in das beschämende Nichtigkeitsverhältnis zurück, welches ihr gebührt; denn während hinter der anscheinend geringen Seemacht Amerikas erst eine wahrhafte Riesenstärke zu erblicken ist, steht hinter der russischen Dekorationsflotte, diesem Spielzeuge des Zaren, wie Sie weiter unten sehen werden, eine mehr als bettelhafte Armut und Schwäche.

Außer etlichen Brigantinen und Fregatten auf dem weißen, kaspischen und ochotzkischen Meere, teilt sich die russische Marine namentlich in zwei Hauptflotten; die älteste und zahlreichste von beiden ist die Ostseeflotte, deren Hauptstation — Kronstadt — mehrfach von mir besucht wurde und ich gestehe, anfänglich daselbst geblendet worden zu sein von einer wirklich schönen Außenseite, so wie man bisweilen durch die prächtige Schale eines wurmstichigen Apfels getäuscht wird. Denken Sie sich einen Granitdamm von 2.700 Fuß Länge, der 35 Kriegsschiffen größter Art Raum und Schutz gegen den Andrang der See gewährt. Dieser den Wogen gebotene Trotz bildet ein längliches Viereck, an welches sich der zur Ausrüstung von Kriegsschiffen bestimmte, geräumige mittlere Hafen schließt. Hierher gelangen die auf den Admiralitätswerften Petersburgs erbauten Schiffsrümpfe nur mit Hilfe der Kamele, weil das seichte Fahrwasser im Meerbusen von Kronstadt keinen andern Transport gestattet. Den häufigen und oft ganz unerwarteten Besuchen des Kaisers ist es zuzuschreiben, dass man auf den russischen Kriegsschiffen stets alles in schönster Ordnung vorfindet und die Gegenstände der Takelage so wie des Segelwerks in bester Güte erscheinen, während früher, namentlich unter Alexander, die gröbsten Unterschleife so an der Tagesordnung waren, um den Kaiser zu der Äußerung zu veranlassen:

„Wenn meine Russen nur wüssten wohin damit, sie würden noch alle Kanonen von den Schiffen stehlen!“

Hat man Gelegenheit, einem Seemanöver beizuwohnen, so geht auch da alles wie am Schnürchen, und nur wer im Geheimnis ist, dass stets vorher die peinlichsten Probeexerzitien vorangehen, nur wer Gelegenheit bekömmt, einen unvermuteten Zwischenfall in Erfahrung zu bringen, der bleibt ungeblendet, dem leuchtet die große Seelenlosigkeit des Ganzen ein. Während unsere amerikanischen Seelente meist ihre Tüchtigkeit bei unvorhergesehenen Fällen erst recht glänzend bewähren, sahen Erfahrene bei den Russen stets das Gegenteil eintreten, und sie selbst gestehen zu, dass sie sich z. B. nicht mit den Engländern messen könnten; wer aber den russischen Eigendünkel kennt, der begreift nun, was ein solches Zugeständnis sagen will.

Wie könnte dem jedoch anders sein! Unter den etwa 30.000 Matrosen der russischen Marine befinden sich kaum ein paar Tausend, von denen gesagt werden kann, dass sie die See nur etwa beim Fischfange oder bei Küstenfahrten ein wenig kennen gelernt. In der großen Regel werden die Ärmsten vom Pfluge weggenommen, bei welchem ihr Bisschen Geist, wenn dergleichen überhaupt vorhanden, zurückbleibt, denn sie betreten das Schiff allzeit mit dem entschiedensten Widerwillen, und man darf mit Bestimmtheit sagen, sie seien überall nur mechanisch und körperlich gegenwärtig. Die armen Schelme sehen stets aus, als wanderten sie dem Richtplatz entgegen, wenn sie auf die Schiffe gebracht werden, und diese Niedergeschlagenheit hängt ihnen auch fortwährend an, trotz ihres sonstigen Leichtsinns. Von Jugend auf zur Feigheit, Untertänigkeit genannt, erzogen, fehlt ihnen ganz der trotzige Sinn, welcher zum kühnen, entschlossenen Matrosen gehört; es fehlt ihnen ganz vollkommen der Nerv, auf den es hier eben gerade ankömmt. Bei eintretenden Fällen, wo das aufhört, was sich einexerzieren lässt, und die eigene selbstständige Entschlossenheit in Wirkung treten soll, da zeigt sich das Unstichhaltige der Sklaverei, patriarchalische Bevormundung von den Sophisten genannt; da greift jene orientalistische Lethargie und Passivität um sich, über die der nervige Sohn der Freiheit leicht den entschiedenen Sieg erringt. Bei Letzterem tritt in solchen Augenblicken der wahre Mut hervor, welcher ebenso sehr von einer Erziehung im Sinne der Freiheit als von einem Selbstbewusstsein herrührt, das sich unter dem Drucke der Unmündigkeit nicht zu entwickeln vermag. Der als Bürger eines Freistaates erzogene Mensch unterwirft sich, indem er Matrose wird, auch der strengen Schiffsdisziplin, allein er tut dies aus eigenem, freiem Willen, und so handelt er dann in entscheidenden Augenblicken auch gewissermaßen nach freiem Entschlusse, indem das Interesse seiner Befehlenden zu seinem eigenen geworden ist. Die dem Patriarchalischen in einzelnen Fällen allerdings eigene Hingebung an die Person eines beliebten Vorgesetzten bringt nur den schnell verrauchenden, unstichhaltigen blinden Enthusiasmus als Höhenpunkt der Entwicklung hervor, dessen Anwendung aufs Allgemeine stets unsicher war und der noch immer der Festigkeit und Entschiedenheit von selbstbewussten Entschließungen aus freiem Willen unterlegen ist. Darum verließen sich kluge Despoten auch niemals allein auf das Band der Disziplin und Subordination, sondern mischten daran irgend ein aufstachelndes Ingredienz, wie z. B. Ehre, Ruhm, Patriotismus und dergleichen der Freiheit aber immer unterzuordnende Dinge. Für Ehre und Ruhm aber fehlt der russischen Sprache sogar die Benennung, denn das im Russischen gebrauchte Wort, Tschest'j, hat in seiner slavischen Abstammung keine andere Bedeutung, als die Bezeichnung von „teuer,“ „kostbar“, und dem armen Russen gebricht es um so mehr an allem Verständnis dieses Wortes, als er völlig ohne persönliche Ehre in staatlicher Beziehung dasteht. Für Ehre und Ruhm sein Leben einzusetzen, fällt also dem zum Matrosen gemachten Russen nicht im Traum ein, und es würde vergeblich sein, ihm die Idee beibringen zu wollen, dass dem Wohle des Vaterlandes, dem Wohle Rußlands der Dienst auf einem Schiffe gelten solle. Die schlichte Einwendung wird allzeit in der Frage bestehen: „Ist das Wasser die russische Erde?“ Vielleicht knüpft sich daran obendrein der Zweifel, ob es nicht vielmehr Verrat an Russland sei, dessen Söhne dem festen Erdboden zu entziehen! Die alte russische Geschichte weiß höchstens von Raubzügen zu Wasser nach Konstantinopel, wobei man jedoch nicht über die Grenzen der Flussschifffahrt hinausging. Eine Fahrt zur See, außer Sicht des Landes, kann noch jetzt nur für nichtnational unter Russen erklärt werden. Lediglich die Gewalt erzwingt den Seedienst, und wenn das Band der Subordination schon anderwärts und unter weit günstigern Verhältnissen für unzureichend befunden wurde in entscheidenden Fällen, so erscheint dasselbe bei der russischen Marine eben nur ausreichend zur Herstellung eines äußern Scheines ohne allen innern wirklichen Gehalt, zur Instandsetzung eines Spielwerks, einer Theaterdekoration, deren bemalte Leinwand Felsen und dergl. darstellen, um das Spiel einer Komödie zu unterstützen. Nur Söhne der edlen Himmelstochter Freiheit können und werden Seefahrer rechter Art sein. Daher zeichneten sich bis jetzt auch noch die auf der russischen Flotte dienenden Finnländer besonders vorteilhaft aus, weil ihnen aus den Zeiten der schwedischen Herrschaft einzelne Freiheitsgedanken erinnerlich sind; je mehr aber das Joch des russischen Despotismus über ihre Nacken befestigt wird, um so mehr muss diese Tauglichkeit schwinden. Unfreiheit setzt Unterdrückung und Feigheit voraus, Feigheit aber passt vielleicht ganz wohl zum Glanz der Höfe, nicht aber zum Kampfe mit Elementen oder mit der Tapferkeit, die vom Gedanken an Freiheit durchdrungen ist.
Ich schwatze Ihnen da, mein lieber A., Dinge vor, die Sie von mir nicht wissen wollen, weil Sie ohnedies von ihnen durchdrungen sind; allein man kann sich derselben bei Besprechung der mir vorliegenden Gegenstände nicht erwehren, ja sie dürfen fast nicht übergangen werden, und wären sie noch so allgemein bekannt oder anerkannt. Lassen Sie uns aber zurück zu denjenigen Einzelheiten kommen, die Ihnen am interessantesten sein dürften. Der russischen Marine fehlt es, das gestehen hier alle zu, die mit der Sache bekannt sind, hauptsächlich und zunächst an tauglichen Unteroffizieren, wenn von gewöhnlichen Matrosen ganz abgesehen werden soll. Während bei andern Flotten geradezu ein Überfluss an Individuen sich zeigt, die durch einen gewissen Bildungsgrad, den ich mit Halbbildung und Halbkultur bezeichnen möchte, ganz besonders geeignet erscheinen, um Unteroffizierstellen gut auszufüllen, wird in Russland ein auffallender Mangel daran sichtbar. Und dieser Mangel trifft wieder genau mit dem angenommenen Regierungssystem zusammen, das geradewegs darauf hinausläuft, Schulbildung nicht ins eigentliche Volk dringen zu lassen. Das gänzliche Nichtvorhandensein von geeigneten Volksschulen in Russland ist offenbar die nächste Ursache des Mangels an nötiger Bildung für den angedeuteten Zweck, und obendrein trägt schlechte Beköstigung, schlechte Behandlung und schlechte Besoldung dazu bei, jeden Trieb zur Vervollkommnung durch Selbstunterricht zu ersticken. Der Sold auf der russischen Flotte ist nicht viel höher als bei den Landtruppen, und dieser erscheint gegenüber z. B. unsern Besoldungen in Amerika gleich Null. Was die Beköstigung anbetrifft, so ist dieselbe ebenfalls auf Einer Stufe mit der des Landmilitärs zu stellen und erscheint über alle Begriffe elend.

Man war zu mehreren Zeiten in Rußland besonders bemüht, dem äußerst fühlbaren Mangel an Unteroffizieren bei der Flotte durch Herbeiziehung von Ausländern abzuhelfen, und sparte dabei weder Schmeicheleien, Versprechungen, noch Betrug; allein einmal hielt sich stets der gemeinste ausländische Matrose für etwas Besseres, als einen gewöhnlichen Russen, und es war, auch ohne die obwaltende Schwierigkeit der fremden, trennenden Sprachen, an kein rechtes Band des notwendigen Ineinandergreifens zu gelangen, sodann aber drangen die Fähigen — trotz aller Hemmnisse — endlich bis zu Offiziersstellen hindurch, oder sie nahmen den Abschied und waren für ihre Plätze verloren, ohne dass leicht genügender Ersatz zu beschaffen war, denn es verbreitete sich der schlechte Ruf der russischen Marineverhältnisse rasch genug nach allen Seiten hin, um hinlänglich abzuschrecken. Selbst auf dem Platze als Oberoffiziere können sich Ausländer — jetzt wie früher — aus verschiedenen Gründen weder gedeihlich entwickeln, noch überhaupt besonders wohl befinden. Der uralte Hader zwischen verschiedenen Nationalitäten, welcher überall unter Menschen sich zeigt, die nicht durch das große Band der Freiheit vereint sind, pflegt seine Wurzeln in der russischen Marine tief genug zu schlagen, um Unkraut in Hülle und Fülle emporzutreiben. Der Hochmut gedeiht nirgends üppiger, als auf dem Mistbeete der Sklaverei, und findet seinerseits Verteidigungsgründe plausibelster Art in derselben Unterlage, denn Rohheit, Trunk, Unredlichkeit und andere Laster grober Art wuchern stets da, wo die Bedingungen der Unfreiheit Fäulnis erzeugen. Und so sieht man den emporgekommenen Nichtrussen auch als Befehlshaber in der Marine allerdings die empörendste Geringschätzung gegen seine Untergebenen an den Tag legen, welche nicht geeignet sein kann, Gutes zu bewirken, während auf der andern Seite ein Blick in das engere Getriebe einer russischen Schiffsmannschaft kaum etwas anderes als Ekel zu erregen vermag.

Wenn nun aus diesen innern Gründen die russische Marine kaum ein achtunggebietendes Ansehen gewinnen kann, so tritt auch noch ein anderer Hauptumstand hinzu, dies zu hintertreiben, ich meine den Mangel an Umstützung durch eine Handelsflotte. Während, wie ich oben schon erwähnte, namentlich unsere amerikanische Marine durch ihre bewaffnete und sehr zahlreiche Handelsflotte bei jedem Seekriege furchtbar erscheinen muss, während unsere Kaperschiffe dem Feind am gründlichsten zu schaden vermögen, entbehrt Russland dieses Hilfsmittel ganz, denn seine sämtlichen Handelsschiffe erreichen, in allen Häfen zusammengenommen, noch nicht die Zahl von Eintausend, und was der Hauptfehler ist, sie sind nicht zur Verteidigung oder zum Angriff eingerichtet, sie können und sollen gleich den geknechteten Landbewohnern keine Waffen tragen. Das Gouvernement allein hat sich das Recht vorbehalten, bewaffnete Schiffe auszurüsten, und es steht auch darum schon schlecht mit der Gesinnung des Schiffsvolkes, weil ein Mann, dem das Recht abgesprochen ist, Waffen zu tragen, der nicht gelegentlich den Kampf aus eigenem Antriebe aufsuchen und ausmachen darf, stets nur ein halber Mann sein wird. Nur wenn es der Zaar befiehlt, sollen seine Russen sich tapfer zeigen; die Tapferkeit wird für eine Sache gehalten, welche — dem Rocke gleich — auf Befehl an- und auszuziehen ist! Fürwahr, der Despotismus begeht aus Feigheit die widersinnigsten Dinge; denn nur die aus dem üblen Bewusstsein entspringende Furcht, also die Feigheit, trieb von jeher die Despoten zur Entmannung derer, die in ihre Gewalt gerieten, und dies führte stets zuletzt den Sturz der despotischen Reiche herbei. Neben dem großen Freiheitsbeispiele Nordamerikas müssen am Ende alle despotischen Staatsverbände verschwinden gleich dem Schnee vor der Sonnenwärme, und die Stunde für das russische Staatsgebäude dürfte in nicht allzu entfernter Zeit schlagen, dies ergibt sich auch aus der genauen Betrachtung der Marineverhältnisse Rußlands und trat mir immer lebhafter entgegen, je länger ich mein Auge auf dem Gegenstande weilen ließ.

Die russische Flotte wird als das Kind Peters I. fast allgemein betrachtet; das erste für diesen Zaaren zu Moskwa in den Stand gesetzte Boot kann somit als erster Flottenanfang gelten; es wurde damals hergestellt, um als Spielzeug des noch in den Knabenjahren befindlichen Zaaren zu dienen, und es ist charakteristisch, dass Lord Durham in unsern Tagen dem Kaiser Nikolaus freimütig die Wahrheit mit den Worten sagen konnte:

„Die russischen Kriegsschiffe sind die Spielwerke des russischen Kaisers!“

Ohne Handelsflotte, ohne Kolonien, wozu sollte Russland seine Kriegsschiffe halten, wenn nicht als Spielwerke des Zaaren? Aber welch' große Anstrengungen zu einem solchen Zweck! Die Flotte kostet jährlich über 10 Millionen Rubel Silber direkt, ohne den Nachteil zu veranschlagen, der daraus entspringt, dass über 50.000 Menschen nur verzehren, anstatt zu erwerben, dass so vieles Material nur als Spielzeug vergeudet wird, ohne reellen Nutzen zu bringen.

Einen höchst eigentümlichen Eindruck machte auf mich das zur Heranbildung von Offizieren für die Marine errichtete, nach außen sehr imponierende, kaiserliche Institut, welches in zwei Abteilungen auf der Basilius-Insel (Wasili Ostross) hier sich befindet. Das erste Seekadettenkorps, wie es hier genannt wird, nimmt ein ganzes, gewaltiges Stadtviertel gegenüber der Isaaksbrücke und der Admiralität ein, während noch ein zweiter großer Palast weiter unten an der Newa, worin das Direktorium seinen Sitz hat, zu demselben Etablissement gehört. So wie man etwa in eine Fabrik alljährlich eine gewisse Quantität Rohstoffe schaffen und als Fabrikate verarbeitet wieder daraus hervorkommen sieht, fast in ähnlicher Weise werden hier 600 junge Knaben, noch in den Kinderschuhen steckende arme Schelme, diesem Institut überliefert, um daraus — zu Seeoffizieren fix und fertig gemacht — hervorzugehen. Während bei uns in Amerika der junge Mann den Seefahrerstand aus freier Entschließung erst zu ergreifen pflegt, nachdem er etwa bis zum 16. oder 17. Lebensjahre im elterlichen oder befreundeten Hause seine Erziehung genossen hat, aus welchem Verhältnisse dann Männer hervorgehen, die dem Fache mit Leib und Seele ergeben sind, erscheinen hier in Russland die aus angeführter Seeoffiziersfabrik entspringenden Personen künstlich dressierten Tieren gleich, denen die Zwangsherrschaft mit leserlicher Schrift auf den Stirnen geschrieben steht. Was zum rechten Gedeihen aus freiem, innerem Antriebe geschehen müsste, das tut man hier nur, weil es „der Dienst also gebietet“, weil es „die Form“ vorschreibt; man tut es mit orientalischer Hingebung an ein unvermeidliches Geschick, dem man verfallen ist, und wogegen anzustreben es eben an männlicher Entschlossenheit, an Mut gebricht, der — als Kind der Freiheit — so zugestutzten, formengepressten Individuen nicht beiwohnen kann.

Diese Seekadetten haben — gleich allen russischen Untertanen — allerdings einen Vater, der zugleich Mutterstelle vertritt, weil mit dem Eintritt ins Kadettenhaus fast jeder Einfluss der Eltern von Geburtswegen aufhören muss. Dieser bemutternde Vater übernimmt allerdings die elterlichen Verpflichtungen und sorgt für zweckgemäße Heranbildung für das Fach, dem die Zöglinge gewidmet sind, allein es ist dies eben nur eine fabrikmäßige Sorgfalt po formu. Der Zaar, dies ist der bemutternde Adoptivvater aller russischen Untertanen im allgemeinen, insbesondere aber aller Zöglinge sogenannter Kronserziehungsinstitute, wozu das Seekadettencorps gehört, der Zaar überträgt po formu dem Direktor des Instituts — natürlich gegen Bezahlung — die Erfüllung seiner übernommenen Elternpflichten, und behält sich nur eine obervormundschaftliche Aufsicht und Kontrolle vor, die „nach Belieben“ erfüllt wird. Dieser stellvertretende oder Untervizevater und Untervizevormund mit mütterlichen Obliegenheiten, erscheint bisweilen als rechter Vice*), ist und bleibt aber jedenfalls nur ein Mensch und noch dazu ein bezahlter Mensch, was bekanntlich oft genug zur sogenannten ächten Mietlingschaft hinzuführen pflegt. Wartung, Erziehung und Unterricht von 600 Kindern oder Mündeln übersteigt selbst Riesenkräfte eines Einzelnen, daher ist nichts natürlicher, als dass der Herr Direktor sein erhabenes Beispiel nachahmt und seinerseits die Sache wiederum po formu abmacht, indem er die Wartung gemieteten Wärtern und Hospitalsärzten, die Erziehung gemieteten Inspektoren, die ihrerseits wieder Gouverneure unter sich stehen haben, den Unterricht aber Professoren nebst Hilfslehrern überträgt. Der Verlauf der Dinge ist demnach folgender: der Zaar stützt oder verlässt sich auf den Direktor, dieser aus seine Ärzte, Inspektoren und Professoren, diese wieder auf ihre Wärter, Gouverneure und Hilfslehrer, denen dann freilich oft nichts anderes übrig bleibt, als ein Verlassen auf die Zöglinge selbst, die somit gewissermaßen und mit Ausnahme der Form, ziemlich oft verlassen erscheinen. Zu Direktoren macht der Zaar gern „berühmte“ Leute, und auf diese Art stand der berühmte Weltumsegler Krusenstern lange Zeit als Direktor an der Spitze des Seekadetteninstituts. Sie wollen wissen, weshalb ich den Admiral Krusenstern „berühmt“ nenne? Ei, mein Himmel! aus dem ganz einfachen Grunde, weil man ihn hier allgemein „berühmt“ nannte und noch nennt, indem er, als das Weltumsegeln noch nicht so an der Tagesordnung war wie jetzt, eine Schiffsreise um die Erde befehligt hat, durch deren Anordnung die Regierung glänzen wollte, weshalb natürlich dem, der den Befehl ausführte, die Berühmtheit zugesprochen werden musste, denn kein Glanz ohne Berühmtheit! Genügt Ihnen dies nicht, so befinde ich mich allerdings in einiger Verlegenheit mit der weitern Rechtfertigung dieser russischen Berühmtheit. Ich konnte allerdings noch anführen, dass dem berühmten Admiral der Zaar einst die Söhne eines vor dem Feinde gefallenen Generals zur besondern Erziehung gegen besondere ansehnliche Vergütung besonders empfohlen habe, und dass diese Erziehung so besonders ausfiel, um die jungen Menschen als unfähig zum Bestehen einer gewöhnlichen Schulprüfung erscheinen zu lassen; allein dergleichen Fälle ereignen sich hier viel zu oft, als dass man eine Berühmtheit dadurch rechtfertigen dürfte. Kurzum, ich rate Ihnen diese Berühmtheit auf russische Weise, d. h. ohne Widerspruch und Raisonnieren hinzunehmen, zumal der Berühmte kürzlich verstorben ist und von ihm das bekannte ,,de mortuis nil nisi bene“ gilt oder doch gelten kann.

*) Anspielung ans das englische Wort „Vice,“ Laster, Fehler, Untugend. Unart, auch der Hanswurst als allegorische Personifizierung des Lasters. A. d. H.

Die Medisance behauptet: es stehe die russische Flotte ganz im Verhältnis zu den russischen Häfen, und Verteidiger der russischen Eroberungspolitik, so wie Personen, welche mit dem Zaaren durch Dick und Dünn gehen, sprechen mit Hindeutung auf Konstantinopel aus, dass die russische Flotte „pränumerando“ hergestellt werde. Sie sehen also, sehr werter Freund, es gilt dem Kampfe auf Tod und Leben zwischen den zwei großen Weltfirmen „Despotismus“ und „Völkerfreiheit!“ Die Chefs eines jeden dieser Etablissements spekulieren gegenseitig auf den Ruin und Bankerott des andern; der Nationalreichtum dürfte am Ende den Ausschlag geben, und es gewinnt von Tag zu Tag mehr den Anschein, als solle der Sieg zu Gunsten des Grundsatzes ausfallen, den unsere glorreiche Republik angenommen. Der Despotismus kann zur See die Herrschaft schon darum nicht erlangen, weil er im Ringen mit der Freiheit durch eigene Spaltungen gehemmt erscheint. Russland müsste erst den Bosporus, Gibraltar und den Sund an sich bringen, um ins Mittelmeer zu gelangen, und dürfte vorkommenden Falls im Kampfe — mit England namentlich — so arg mitgenommen sein, dass das ihm erst dann in ungeschwächter Gestalt entgegentretende Geschwader des feindlichen Hauses der Freiheit nur geringen Kraftaufwand erforderlich haben würde zur Erringung des Sieges. Die Freiheit kann mit Wohlbehagen auf das kostbare Flottenspielzeug der Despotie hinschauen, denn es schwächen die Ausgaben für dasselbe die gegnerische Kraft.