3. New York, März 1900.

Liebster Freund! Heute ist mir so grau und trübe zu Mute wie draußen der Himmel, an dem immer neue Wolken vorbeijagen hinaus zur See.

Ich habe heute Ta zum Dampfer gebracht, auf dem er mit dem Provikar nach Europa abgereist ist. Heute Morgen kam er wie alle Tage, hatte die Sachen meines Bruders gebürstet und gefaltet, die Stiefel blank geputzt – das Methodische, Regelmäßige seiner Rasse lag in dieser kleinen Handlung, noch bis zur letzten Minute seine Arbeit zu tun. Sein Gesicht aber war ganz verändert, aufgedunsen vom Weinen, daß die geschlitzten Augen beinah ganz verschwanden. Der Gedanke, ihn gehen zu lassen, kam mir plötzlich ganz unmöglich vor, ich fühlte, wie mir selbst die Tränen in die Augen traten, ich sah ja auch, wie schwer es ihm wurde, und so sagte ich ihm: „Willst du nicht bleiben? Es ist ja noch Zeit, Ta.“ Da verzog sich sein Gesicht zu jenem seltsamen, orientalischen Lachen, das wir Occidentalen nie ganz verstehen, das bei Gelegenheiten erscheint, wo es uns als vollkommen unangebracht, ja verletzend berührt, das in einer gewissen Schüchternheit wurzelt und dem rührenden Zug entspringt: meine Angelegenheiten sind viel zu gering, als daß sie dich stören dürften. So grinste denn der arme Ta, während er dem Weinen nahe war, und auf meine Frage antwortete er, indem er einen Finger auf den Mund legte, den Kopf schüttelte und ganz leise sagte: „Nicht sprechen, Taitai.“


Ja, er hatte recht, wozu auch sprechen über das, was nicht zu ändern ist.

Tas Abreise gestaltete sich zu einer kleinen Ovation. Die Hausmädchen in den sauberen weißen Mützen umdrängten ihn, mehrere brachten ihm kleine Andenken, und alle riefen ihm nach: „Glückliche Reise, Ta! Komme wieder, Ta! Aber bringe keine chinesische Frau mit, Ta!“

Und er grinste über sein armes verweintes Gesicht, wie es nun mal im fernen Osten die gute Erziehung gebietet, wenn man so recht gerührt und traurig ist.

Ich fuhr mit Ta zu seinem Schiff, wo ich ihn dem Provikar Hofer übergeben sollte. Vom Central-Park hinunter zum Hafen, durch die vielen verschiedenen Straßen, die immer ärmlicher, häßlicher und holpriger werden. In einer langen Reihe von Stufen irdischen Besitzes geht es von den Fifth-Avenue-Palästen hinunter zu den Tenement-Häusern, zu den Schlupfwinkeln für rätselhafte Existenzen und provisorisch aussehenden kleinen Läden und Kneipen, die man ganz verwundert ist, noch irgendwo in New York zu sehen. Von höchster Höhe bis zu tiefster Tiefe führt der lange Weg, von jenen, die vor der Langeweile von Vergnügen zu Vergnügen flüchten, bis zu denen, die im Kampf gegen Hunger und Kälte von Arbeit zu Arbeit hasten.

Auf dem Dampfer herrschte die furchtbare Verwirrung, das Rennen, Hasten, sich Suchen, das aufgeregte Sprechen, das nervöse Lachen, das Händedrücken, das Küssen und Weinen der letzten Stunde vor der Abfahrt. Unendlich viel verschiedene Typen, die die neue Welt auf jedem solchen Dampfer zurück nach Europa schickt! In die drei großen Kategorien der Vergnügungs-, Geschäfts- und Gesundheitsreisenden lassen sie sich einteilen. Von einer Menge Freunde werden die meisten Reisenden noch begleitet, so daß ein entsetzliches Gedränge auf dem Deck herrscht. Zwischen all dem stehen die Schiffsoffiziere, ebenso abgestumpft gegen komische wie gegen wehmütige Abschiedsszenen, und erteilen mit lauter Stimme Befehle, korrekt, vorschriftsmäßig, echt europäisch. –

Nur mit Mühe fand ich in dem Gewühl der Abreisenden und Abschiednehmenden den Provikar. Ich übergab ihm Ta, und er versprach mir nochmals, gut für ihn zu sorgen und ihn sicher bis nach China zu bringen. Dann tönte auch schon die Glocke, daß die Nichtreisenden das Schiff zu verlassen hätten. Ich reichte beiden noch einmal die Hand und sagte zu Ta „Gott behüte dich!“ denn in diesem letzten Augenblick hatte ich das klare Bewußtsein, daß er mit offenen Augen in eine große Gefahr ging, weil er es für recht hielt – in seiner Art auch ein Held, trotz Zopf und Schlitzaugen – und ich gab ihm den Wunsch mit auf den Weg, der so viele Helden schon begleitet hat: „Gott behüte dich!“

Dann kam ich in das Gedränge, und zwischen lauter fremden Menschen, die alle auch ihre Sorgen hatten und eilten und hasteten, ward ich vom Schiff auf die Brücke und dann in den großen dunkeln Schuppen geschoben, an dem der Dampfer noch lag. Ich blieb noch einmal stehen, durch das große, offene Tor, das man eben schließen wollte, sah ich noch einmal das Schiff – es war jetzt los vom Lande, ein Zittern ging durch das Ungeheuer, als ob ein Riese sich seiner Kraft bewußt würde. Ich suchte noch einmal mit den Blicken nach Ta und dem Provikar – da schloß sich das Tor.

Vor mir zur Straße zurück ging eine gebeugte, alte Frau, die bitterlich weinte; ein kleiner Junge führte sie, und ich hörte ihn tröstend sagen: „Never mind, granny dear, they’ll come back!“ Aber die alte Frau weinte weiter, sie hatte wohl oft Menschen gehen und nicht wiederkehren sehen und wußte wie ich, daß Menschen vielleicht, Zeiten aber nie wiederkehren.

Das Episodenhafte des Lebens lastet heute so besonders schmerzlich auf mir, lieber Freund, das Zerrissene, Heimatlose. Der arme Ta war mir immer noch wie eine Verbindung mit den chinesischen Jahren; sie waren ja in vielem traurig und enttäuschend, manches haben wir dort erlebt, manches aus der Heimat dort vernommen, was uns in tiefstem Herzen geschmerzt hat – aber ich fühle jetzt doch, daß ich dort angefangen hatte, etwas Wurzel zu schlagen – und dann – man trauert ja auch um die grauen Tage, wenn sie erst vorbei sind, weil sie eben nie wiederkehren können und mit ihnen ein Stück von uns selbst verstorben ist.

Seit den Gesprächen mit dem Provikar habe ich die Empfindung, als sei das China, das ich gekannt, auf immer dahin. Bis jetzt dachte ich, ich brauchte nur umzukehren, dann fände ich dort alles wieder, wie ich es verlassen habe – aber dem ist nicht so, man findet nie alles wieder, denn nichts bleibt still stehen, nicht einmal in China. Und nun quält mich die Angst, was werden wird, wenn der Provikar wirklich recht hat mit allem, was er prophezeit.

Wenn er doch in Europa durchdringen und es ihm gelingen möchte, noch rechtzeitig zu warnen! – Und dann sage ich mir wieder, ist es denn je gelungen, Ereignisse abzuwenden, Schicksale zu lenken? Menschen mühen sich ab, ängstigen und grämen sich, möchten helfen und bessern, und in allem, was sie tun, zum Nutzen oder Schaden anderer, was sie sich einbilden, aus freier Wahl zu tun, was ihnen als Versäumnis oder als Verdienst erscheint – in alledem sind sie vielleicht nur blinde Werkzeuge eines blinden Verhängnisses. – Wer kann es wissen?

Draußen auf dem weiten Ozean zieht das Schiff dahin, das Ta und den Provikar trägt, und zahllose andere Schiffe kreuzen die Meere, alle voller Menschen, die auch zweckerfüllt und verantwortungsbelastet sind.

Und vielleicht ist all das umsonst, vielleicht hat doch das Verschen recht, das ich in einer Chronik unter dem Bilde eines alten Segelschiffes fand:

„Wirst du einst alt und weise,
So weißt du, daß die Reise
So zwecklos war wie die Well’n.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe, die ihn nicht erreichten.