2. Vancouver, August 1899.

Mein gestriger Brief, lieber Freund, handelte so sehr von Bartolo, daß ich fürchte, er wird den Eindruck bei Ihnen erwecken, als seien wir mit ihm die einzigen Passagiere auf dieser langen Fahrt gewesen. Drum sende ich gleich diesen zweiten Brief nach, der Ihnen von unserer übrigen Reisegesellschaft erzählen soll.

Am interessantesten waren mir zwei Japaner, die sich ein Stückchen Heimat mitnahmen, in Gestalt einer zwei Quadratfuß großen, erdgefüllten Kiste, in der mit Steinen und verkrüppelten Zwergbäumchen eine japanische Miniaturlandschaft dargestellt war. Sie hüteten dies Gärtchen mit rührender Sorgfalt. Beide litten offenbar sehr an Seekrankheit und ihre gelbliche Haut hatte allmählich seltsam grüne und violette Schattierungen angenommen, aber, mochten sie noch so elend sein, sobald ein Sonnenstrahl durch das dicke, schwere Gewölk drang, krochen sie aus der Kajüte und trugen ihr Kästchen auf das Deck in die Sonne, und sobald sich der Wind dann erhob und es kälter wurde, schwankten sie wieder hinunter, ihr Stückchen Japan in den Armen. Sie reisten nach Amerika zu Studienzwecken, und schon auf der Fahrt diente ihnen alles und jeder als Beobachtungsobjekt. Sie hatten offenbar ein großes Gefühl der Verantwortlichkeit, besonders für die ihnen gegebene Zeit, eine Verantwortung, mit der es die meisten Menschen nicht so genau nehmen, und die doch vielleicht die ernsteste von allen ist. Jeder unserer beiden reisenden Japaner hätte vor Jahren einmal das kleine japanische Schulkind sein können, von dem erzählt wird, daß man es nach einem starken Erdbeben zwischen den Trümmern des Hauses fand, wie es auf einen herabgefallenen Ziegel die Zahlen des letzten ihm aufgegebenen Rechenexempels eifrig weiter schrieb.


Auf unserem Schiff waren auch ein paar russische Reisende, sowie englische und belgische Ingenieure, die aus Peking zurückkamen. Sie hatten sich dort um Konzessionen für Eisenbahnen beworben, die möglicherweise erst in Jahrzehnten, vielleicht auch nie gebaut werden dürften. Ich erinnere mich sehr gut, wie Sie mir oftmals sagten, gerade dies Drängen um Eisenbahnen erbittere die Chinesen besonders. Und dabei waren die meisten dieser nur mit Drohungen errungenen Zugeständnisse für lange hinaus ganz zwecklos, und wurden nur verlangt, um etwaigen anderen Bewerbern zuvorzukommen. Man prahlte in Peking mit den erlangten Konzessionen, wie die Indianer mit erbeuteten Skalps. Nirgends habe ich so sehr die Empfindung unendlichen Raumes gehabt, wie gerade in China, und doch schien es nirgends so sehr wie in Peking, als ob die weite Welt für die Ansprüche der Menschen nicht ausreichte. Der Kampf wurde dort mit jener neidischen Eifersucht geführt, die ein Gebiet lieber wüst und leer sieht, als daß sie es fremden Händen überließe. Der Schwächere wird, so reich und ausgedehnt die Welt auch ist, stets leer ausgehen, denn die Gier der Starken ist größer als der größte Raum.

Auf dem Schiff hörte man endlose Debatten über die Zukunft Chinas, über „offene Tür“ und „Interessensphären“, über Aufteilung und die Ansprüche der einzelnen Länder. Was aber in Pekinger Kreisen nur leicht angedeutet wurde, das sprachen diese Reisenden mit brutaler Offenheit aus. Man sah sich da plötzlich der bête humaine gegenüber, wie sie wirklich ist: stets erscheint ihr der eigene Anteil zu klein, der des anderen zu groß. Mit harmloser Naivität wurde da enthüllt, was jedes einzelnen Herzenswunsch war: für sich selbst abgeschlossene und möglichst große Interessensphären, bei dem Nachbar dagegen ein möglichst offenes Scheunentor. Mich stimmten diese Debatten oft unendlich traurig, denn sie eröffneten für die Zukunft weite häßliche Aussichten auf Kampf und Unterdrückung. Es waren ja nur einzelne Leute, die da redeten, zumeist einflußlose, unbedeutende Menschen, aber aus ihren Worten konnte man doch auf den allgemeinen Geist der Zeit schließen, mit seiner Skrupellosigkeit, seiner Abhängigkeit vom Erfolg, seiner Grausamkeit gegen alles auf Erden, was sich nicht wehren kann. Die beiden Japaner hörten dem allen zu, und wenn sie auch selbst wenig sagten, so merkte man ihnen doch an, daß für sie Buddha und seine Lehren in ebenso weiter vergessener Ferne liegen, wie für die anderen Christus und sein Wort, und daß auch sie sich den europäisch-amerikanischen Grundsatz zu eigen gemacht haben: „Friß, auf daß du nicht gefressen werdest.“

Draußen war es sehr neblig, sehr grau und eisig kalt geworden.

Ein oder der andere Passagier fragte wohl mal, ob keine Kollisionsgefahr sei. Dann wurde geantwortet: „In diesen nördlichen Breitengraden fahren gar keine anderen Dampfer, und sollten wir unwahrscheinlicher Weise einem Segelschiff begegnen, so sind wir eben die Wuchtigeren.“

So ging es im dicken Nebel weiter, und in langen gleichmäßigen Zwischenräumen ertönte das schauerliche Nebelhorn.

Die übrigen Reisenden hatten das Rauchzimmer oder ihre Kajüten aufgesucht; ich war allein auf Deck, in meinen dicksten Pelz gewickelt.

Der Nebel war dichter als je zuvor, die sichtbare Welt schien auf ein paar Fuß zusammengeschrumpft zu sein, drüber hinaus war alles ein unheimliches Grau, das lautlos hin und her wogte. Zentnerschwer fühlte ich eine Last, die sich mir aufs Herz legte, so daß ich kaum zu atmen wagte – und diese Last war eine namenlose Angst vor dem grauen Etwas, das die ganze Welt um mich her erfüllte. Ich kam mir so einsam vor wie noch nie im Leben, als sei ich ganz allein, als letztes Lebewesen, und als schwebte ich angstvoll suchend durch den endlos leeren Weltenraum. Und wie ich so hinausstarrte, begann es in dem Grau zu wogen, zu steigen und sinken; es war, als wehe der Wind dicke, schwere Schleier hinweg, und plötzlich lag klar und dicht vor mir ein Stück kalte, dunkle, nordische See. Ein Felsen erhob sich daraus, schneebedeckt und an all seinen Zacken Eiszapfen tragend, die bis zu dem schaurigen Wasser herabhingen. Oben aber auf dem Felsen saß ein riesiger Eisbär, in den Tatzen das Gerippe des letzten Tieres haltend, das er in der Einöde gefunden. Er schaute sich um, als wollte er sagen, „nun bin ich Alleinherrscher der Welt“. – Aber da tat sich das schwarze Wasser auf, und heraus tauchte ein Ungeheuer mit Schlangenleib, Fischflossen und rot bemähntem Walroßhaupt; Seetang hing ihm am nassen Maule und Reste kleiner Fische – die letzten, die es noch in der See gefunden; auch seine grünlich glasigen Augen schienen zu sagen: „Nun bin ich ganz allein Herr der Welt.“ Da aber erblickten sich die beiden, der riesige Eisbär und das Seeungetüm. Die Flossen peitschten die Wogen, die Tatzen umkrallten den Felsen. Noch waren beide gesättigt, aber schon maßen sie sich mit den feindlichen Blicken künftiger Gegner. Sie hatten die ganze Welt entvölkert und trafen sich nun hier in der Einöde zu letztem Kampfe. Der würde entscheiden, wer Herr der Welt blieb! –

"Wir waren heute den Aleuten ganz nah,“ sagte der Kapitän beim Abendbrot, „einen Augenblick konnte man eine der kleinen Inseln durch den Nebel sehen.“

Ich aber hatte die Empfindung, als hätten sich die Wolken, die uns umgeben, einen Augenblick geteilt, und ich hätte einen Blick getan in die Geschichte der Welt, die ja oft eine Geschichte wilder Tiere ist. –


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe, die ihn nicht erreichten.