2. New York, Oktober 1899.

Lieber Freund! Haben Sie je von Charles William O’Doyle gehört? anders auch „Chinalack-O’Doyle“ genannt? Dieser 50fache Millionär, der heute an der Spitze der größten Eisenbahnen steht, der Bergwerke, Schiffe und Ländereien, groß wie ein Königreich, besitzt, hat seine Laufbahn vor Jahren als Apothekergehilfe in San Francisco begonnen. Wie er dahin gekommen, wer seine Eltern waren, erzählt er heute wahrscheinlich niemandem – aber Geduld, die nächste Generation der O’Doyles wird gewiß entdecken, daß die Vorfahren von Charles W. einst angesehene Großgrundbesitzer in Irland gewesen, unter Cromwell ihres katholischen Glaubens halber verfolgt wurden, verarmten und, vom grünen Eiland vertrieben, nach Amerika auswandern mußten.

In Amerika wird jetzt alles fabriziert, wie in Europa – auch Stammbäume!


Charles W. legte den Grund zu seinem Vermögen durch einen wahrhaft genialen Einfall. Er hatte in San Francisco Gelegenheit, die Chinesen zu beobachten, die damals noch massenweise frei nach Kalifornien einwandern durften und ebenso massenweise nach ihrem Tode in großen schweren Holzsärgen nach Kanton zurückbefördert wurden. Chinesen glauben ja nun einmal nur im eigenen Lande regelrecht begraben werden zu können. Aber die schweren Holzsärge und der teure Transport verschlangen oft alles, was sich der Tote während Jahren erspart hatte, zum großen Ärger der bezopften Erben. Da erfand Charles W. einen eigenen Lack, den er zuerst an allerhand toten Tieren ausprobierte. Damit bestrichen, konserviert sich jeder Tote monate-, ja jahrelang; er dörrt vollkommen aus, wird hart wie Stein und erscheint, als sei er mit einer gelben Lederhaut überzogen. Charles W. nahm ein Patent auf seinen „Chinalack“ und damit bestrichen legten nun Tausende toter Chinesen den Weg nach Kanton zurück. Die teuren, nach chinesischem Muster in San Francisco verfertigten Holzsärge waren erspart und der Preis der Überfahrt bedeutend verringert, denn man konnte nunmehr die toten Chinesen wie Sardinen in irgend einen Schiffswinkel fest aufeinander pressen und unterstauen, und sie kamen vollkommen unversehrt daheim an, den hart gedörrten gelben Enten ähnlich, die als große Delikatesse im San Franciscoer Chinesenviertel feilgeboten werden.

Dies war die Grundlage der O’Doyleschen Millionen!

Seitdem macht Charles W. Geschäfte in allen Ländern der Welt, er ist längst aus San Francisco fortgezogen und nach New York übergesiedelt, aber er ist mit China stets in besonderen Beziehungen geblieben. Es wird gemunkelt, daß er, abgesehen von seinen großen chinesischen Bank- und Bahninteressen, durch die Dankbarkeit seiner ersten chinesischen Klienten, denen sein Chinalack manch kleine Erbschaft erhalten, Anteile an kantonesischen Pfandinstituten, Teehäusern und Blumenbooten erworben hat. Mein Bruder kannte ihn schon lange, hat auch von Peking aus Geschäfte mit ihm gemacht, und so war denn Charles W. O’Doyle einer unserer ersten Besucher im Waldorf-Astoria, und gestern Abend waren wir zum Diner bei ihm.

Sein Haus liegt dicht am Central-Park. Es hat hohe Türme und eine breite Bogen-Loggia, von der aus man in die herbstlich gefärbten Bäume des Parks und auf den fortwährenden Strom der vorbeifahrenden Equipagen blickt. Auf dem mit blitzenden Kupferplatten belegten Dach stehen zwei große Bronzereiter, ähnlich wie die auf dem deutschen Reichstagsgebäude, bei denen man sich auch immer staunend fragt, wie sie wohl da hinaufgeraten sind. Die Haustür ist massiv geschnitzt und entstammt einem alten befestigten Hause bei Golconda; sie ist mit weit vorspringenden eisernen Spitzen versehen, die einst dazu dienten, den Anprall feindlicher Elefantenreiterei aufzuhalten. Durch diese Tür tritt man in eine weite, weißgoldene Halle. Zwei ägyptische Mumienkasten, reich bemalt und vergoldet, mit Deckeln, deren obere Enden Sperberköpfe darstellen, stehen aufrecht, wie Schildwachen zu beiden Seiten einer wunderbaren Malachittreppe, die zu den oberen Stockwerken führt.

Es ist eine weltbekannte Treppe, über die die Lebemänner zweier Kontinente geschritten; führten ihre Stufen doch einst zu jener berühmten Aspasia des zweiten Kaiserreiches, der sie ein russischer Großfürst geschenkt. In der großen débacle, die das Kaiserreich verschlang, verschwand auch jene Dame. Ihr mit Schätzen gefülltes Haus ward während der Belagerung von Paris durch feindliche Kugeln zerlöchert und dann von Kommunarden geplündert. Ein armenischer Antiquar, der mit richtiger Witterung guter Gelegenheiten in Paris in einem Keller versteckt geblieben war, erwarb in jenen Tagen für ein Spottgeld die Malachittreppe, und von ihm hat sie der jetzige Besitzer erstanden.

Gepuderte Diener mit respektablen englischen Gesichtern standen sich auf den Treppenabsätzen stumm gegenüber.

„Als der Herzog von Hardup neulich verkrachte,“ erklärte mir Charles W. O’Doyle, „habe ich nach London telegraphiert und seine ganze Dienerschaft rüberkommen lassen – so war ich doch sicher, Leute zu haben, die in einem anständigen Hause trainiert worden sind.“

O’Doyle ist ein breitschultriger, stämmiger Mann. Sein rotes glattrasiertes Gesicht ist unter dem Kinn bis zu den Ohren von einem kurzen Bart umgeben, der einer Halskrause ähnlich sieht. Große Perlen prangen auf dem Hemde, eine Kette mit allerhand seltenen Berlocks hängt ihm quer über dem Magen. Mit dem spitzen vorspringenden Bauche, über dem sich die breiten haarigen Hände von kostbaren Ringen funkelnd kreuzen, mit dem gutmütigen, halb irischen, halb Yankeedialekt, in dem er fortwährend von seinen verschiedenen Kunstschätzen und ihrem Ursprung spricht, hält man ihn zuerst für einen eingebildeten, aber harmlosen Narren, bis sich unter den buschigen Augenbrauen einmal die schläfrig gesenkten Lider heben und man eine Sekunde lang in die seltsamen Augen blickt; kalt und lauernd sind sie, wassergrün mit kleinen dunkeln Flecken, wie die gesprenkelte Schale von Kiebitzeiern –; hat man einmal in sie hineingeschaut, so glaubt man gern eine jede der vielen Geschichten, die über O’Doyles Skrupellosigkeit im Gelderwerb kursieren.

Mrs. O’Doyle merkt man es auf den ersten Blick an, daß sie aus der früheren Lebensepoche ihres Mannes stammt, und daß sie sich unter ihrer Perlenlast und zwischen den gepuderten Dienern nicht recht wohl fühlt. Von Zeit zu Zeit schaut sie ängstlich nach ihrem Mann, wenn sie sich einer besonderen gesellschaftlichen Schwierigkeit gegenüber sieht, oder wenn sie fürchtet, eine Dummheit gesagt zu haben. Ihr ängstliches, um Vergebung flehendes Benehmen und die kalten, lauernden Augen von O’Doyle – welche Faktoren für eine jener häuslichen Tragödien, die sich täglich neben uns abspielen, ohne daß wir es ahnen!

Die arme Frau hat es nicht einmal fertig gebracht, dem Hause O’Doyle Erben zu schenken – und Charles W. hat deshalb einen Neffen und eine Nichte an Kindesstatt angenommen. Der Sohn war nicht anwesend, dagegen die Tochter, Prinzessin von Armenfelde, die zur Zeit mit ihrem Manne in Scheidung liegt, weil Charles W. den stets von neuem verschuldeten Schwiegersohn nicht zum viertenmal von seinen Gläubigern retten will. So muß sich denn die Prinzessin scheiden lassen, ob sie selbst will oder nicht. Sie wird den Namen ihres Mannes behalten, und Charles W. findet, daß er ihn allmählich teuer genug bezahlt hat. Es war übrigens amüsant zu beobachten, wie sehr die „Prinzeß“ der ganzen Familie imponiert, obschon sie doch vor ein paar Jahren auch noch eine einfache Miß O’Doyle war, die aus einer Anzahl armer Verwandten zur Adoption ausgesucht wurde.

Zwei entfernte junge Vettern von Mrs. O’Doyle waren auch anwesend. Der eine erfreut sich der klangvollen Vornamen Washington Montgomery. Ich war ganz gespannt, welcher Familienname für solchen Anfang hochtrabend genug sein würde, und denken Sie sich, er heißt Baggs. Washington Montgomery – Baggs! Es ist ein Sprung wie von einem Palais am Central-Park in eine Mietskaserne der neunten Avenue!

Während die Gäste sich versammelten, zeigte mir Washington Montgomery einige der wundervollen Bilder, die in den Salons hängen, und die in seinen Augen hauptsächlich deshalb Wert haben, weil sie meistens aus historischen Sammlungen fürstlicher Häuser stammen, die unter dem Hammer endigten.

Der zweite Vetter, dessen Name ich mich nicht entsinne, ist offenbar erst ganz kürzlich in das O’Doylesche Millionenreich verpflanzt worden. Als Champagner serviert wurde, ward er ganz aufgeregt und rief laut über den Tisch: „Drink, drink, gentlemen, whilst it’s fizzing!“

Der Speisetisch war übrigens ein wahres Entzücken! Ich habe noch nie eine solche Fülle von Orchideen gesehen, außer vielleicht in dem Botanischen Garten von Kalkutta. Ich hätte sie gern alle einzeln bewundert: die langen weißen Dolden, die vom Kronleuchter herabhingen, die grünlichen, braungeäderten, die wie kleine samtige Schuhe aussehen, in denen Feen nachts im Mondschein tanzen; die großen blaßlila, die auf ihren hohen Stengeln so stolz und abwehrend erscheinen, bis daß man ihre verlangend geöffneten purpurnen Lippen gewahrt. Orchideen kommen mir immer vor wie manche schöne Frauen, in deren Nähe man gleich fühlt, daß sie wunderbare geheimnisvolle Dinge erlebt haben müssen. Ich wünschte, ich verstände die Orchideensprache! Es werden darin gewiß die seltsamsten Geschichten erzählt.

Bei diesem New Yorker Diner fehlte es übrigens auch nicht an Geschichten. Beim Öffnen der Servietten fiel jedem Gast ein Etui in die Hand, das irgendein Geschenk enthielt: Manschettenknöpfe, Portebonheurs, Nadeln, Schnallen. Alles im modernsten art nouveau-Geschmack! Kolonel Patterson, der bisherige amerikanische Vertreter in Kairo, rief seinem alten Freund O’Doyle über den Tisch zu: „Aber Charles, wozu hast du denn das gemacht? Hier ist doch niemand, der bestochen werden soll?“

Darauf stürzte sich der Kolonel in eine Flut türkischer Bestechungsgeschichten, die mir aber ziemlich zahm erschienen, weil ich drei Jahre lang chinesische Bestechungsgeschichten gehört habe und der fernste Osten darin dem näheren Orient doch noch über ist. Der Prinzeß, die nie die Gegenwart der herzoglich Hardupschen Diener vergißt, war diese Konversation offenbar unangenehm, sie suchte den Kolonel davon abzulenken und fragte ihn, welche bedeutenden Leute er in Kairo gekannt habe, worauf sie die Antwort erhielt: „Well, Mrs. Princess, da ist ein Mann, der Cromer heißt, who bosses the show, und außer ihm war ich da!“ Und nun, liebster Freund, genug aus diesem Vanity Fair!

Möchte mein Brief Sie wohl antreffen, wo Sie auch sein mögen, und möchten Sie nicht gar zu lang dort bleiben, wo „dort“ auch sein möge, da es doch auf alle Fälle von mir sehr weit fort ist!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe, die ihn nicht erreichten.