2. Banff, September 1899.

Lieber Freund! Die Welt ist hier so schön, daß ich Ihnen gleich wieder schreiben muß! Ich fürchte, dieser Briefanfang ist nicht sehr logisch – aber Sie werden ihn doch verstehen, Sie haben ja immer alles verstanden – Gesprochenes und Unausgesprochenes.

Wir haben uns in einem Lande gekannt, das wohl niemand als besonders schön bezeichnen würde, im Gegenteil, es war oft recht öde und häßlich, und über all unseren gemeinsamen Erinnerungen liegt es wie ein Schleier von Wehmut. Und doch, seitdem ich von dort fort bin, fühle ich mich Ihnen niemals näher, als gerade, wenn ich etwas wirklich Schönes sehe. Nach den drei Jahren in Peking, wo mir das Schöne so selten durch die Natur offenbart wurde, sondern wo ich es nur in eines Menschen Herz und Seele fand, ist es mir wie eine Offenbarung, zu sehen, wie köstlich die übrige Welt doch ist. Jetzt beim Anblick dieser herrlichen Berge, wenn die Sonne auf die Gletscher scheint und die Bäche von den Felswänden herabstürzen in einen tiefgrünen See, wenn ich die harzige Luft einatme und an den hohen Stämmen hinauf schaue, die hier standen, lang ehe der weiße Mann das Land betrat – da frag ich mich oftmals: ist dies dieselbe Welt? Hat das alles so gerauscht, geleuchtet, gefunkelt, geduftet, während der drei letzten, grauen Jahre, die ich in jener fernen Stadt verlebt, wo alles so unendlich fremd war und sich mir das Herz oft zusammenzog in beklemmender Angst, wie vor unheimlichem, unabwendbarem Schicksal?


Es ist so schön, wieder etwas schön finden zu können, plötzlich zu fühlen, daß die Jugend und die Begeisterungsfähigkeit nur schlummerten, daß sie aber noch da sind und bloß warteten, wieder aufleben zu dürfen. Es ist so schön, lieber Freund, sich noch einmal freuen zu können – ohne besonderen Wunsch, ohne irgend welche eigennützigen Gedanken, die ganz eigene, harmonische Freude zu empfinden, die die Natur in uns erweckt, die klärt und beruhigt, und durch die das Sorgen, Fürchten und Trauern für ein Weilchen wie in fernem Nebel verschwimmen. In solchen Augenblicken kommt es uns zum Bewußtsein, daß wir selbst eben auch ein Stückchen Natur sind, trotz alles Künstlichen und Gequälten, das uns die Erbschaft von Hunderten von Generationen auferlegt hat, und für einen kurzen Augenblick scheint es uns möglich, zu werden, wie die Lilien auf dem Felde. – Für eine kleine Spanne Zeit vermag das Schöne uns von der Last des Erlebten, des Gewollten, des nie Erreichten zu befreien. Wir atmen einmal frei auf, möchten vergessen und verweilen – aber schon müssen wir wieder hinein in die Mühe und die Qual, die uns Leben sind. –

Doch auch für die kurze Rast sei diesen Wäldern Dank!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe, die ihn nicht erreichten.