1. New York, Oktober 1899.

Lieber Freund! Nach viertägiger Fahrt sind wir endlich hier eingetroffen. Müde und verstaubt kamen wir gestern Abend an und fuhren gleich nach dem Waldorf Astoria. Ich wartete in der großen Halle des Hotels, während mein Bruder sich nach unseren Zimmern bei den Direktoren erkundigte, die wie Kronjuwelen oder Verbrecher hinter Gittern sitzen. Während ich so wartete, bildete sich allmählich ein Gedränge um mich, das ich mir nicht zu erklären wußte, da ich mich weder schön noch abschreckend genug fühlte, um ein derartiges Interesse bei meinen Mitmenschen zu erregen. Das Rätsel löste sich aber bald. Nicht ich, sondern unser chinesischer Diener Ta-kwan-li war der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Während er gleichmütig neben mir stand, in jeder Hand eine Reisetasche, auf seinem guten runden Gesicht den Ausdruck vollkommenster Indifferenz, und die kleinen geschlitzten Augen so zugekniffen hielt, als lohne es sich gar nicht, sie zu öffnen, um diese ganz neue Welt zu betrachten, standen Herren und Damen um ihn herum, riefen andere herbei, ihn auch zu begaffen, und tauschten allerhand Bemerkungen über sein Äußeres aus. Der Orientale, dem doch alles so gänzlich neu und befremdend sein mußte, war dem westlichen Menschen mal wieder ganz überlegen durch seine angeborene und anerzogene Ruhe. Er zeigte weder Erstaunen noch Neugier und sagte nur: „Wenn sie mich genug betrachtet haben, werden sie wohl aufhören.“

Die unmittelbare Folge von Tas Aufsehen erregender Anwesenheit war, daß sich sofort Reporter der verschiedensten Zeitungen bei uns melden ließen. Sie waren voller Neugier, China und besonders die alte Kaiserin betreffend, über die sich nach dem Staatsstreich offenbar wahre Sagenkreise gebildet haben. „Ob wir an den Fortbestand Chinas glaubten? Ob es zu einer Aufteilung kommen würde? Ob Li Hung Tschang wirklich in russischem Solde stände? Welchen Mächten die Kaiserin zuneige?“ Wir suchten uns aus all den verfänglichen Fragen herauszuziehen, indem wir wiederholten, daß wir ja keine Diplomaten, sondern einfache Privatleute seien – aber es war schwer, diese professionellen Frager los zu werden. Schließlich ließen wir durch Ta jedem neuen Besucher sagen, daß wir von der Reise sehr müde seien und niemand mehr sehen könnten. Da hörten wir denn durch die Tür, wie sie nun mit Ta ein Kreuzverhör anstellten. Besonders wollten sie wissen, wie ihm New York gefalle, was ja immer die erste Frage ist, die Amerikaner stellen. Ta entwickelte wieder die größte Ruhe und würdevolle Zurückhaltung, indem er antwortete, er sei ja eben erst bei Nacht angelangt und habe noch nichts erblicken können, es schiene ihm aber, daß die Amerikaner noch nicht viel Leute aus fremden Ländern gesehen hätten.


Heute Morgen stand ich ganz früh auf, setzte mich ans Fenster und sah die große Stadt erwachen. Wir wohnen im achten Stock, die Menschen unten in der Avenue sehen wie Ameisen aus, und dabei sind wir noch nicht auf der halben Höhe des Hotels. Über seinem letzten Stockwerk ist eine Terrasse angelegt, ein sogenannter Dachgarten, wo man in den heißen Sommernächten Musik hören, kalte Getränke einnehmen und ein bißchen kühle Brise einatmen kann. Auf mehreren der höchsten Gebäude der Stadt, den achtzehn, zwanzig und noch mehr Stockwerke hohen Himmelskratzern, sind solche Vergnügungslokale errichtet – hell erleuchtet, scheinen sie nachts wie unbewegliche Ballons im dunkeln Himmel zu hängen. Von unsern Fenstern aus haben wir einen schönen weiten Blick auf die Fünfte Avenue und die Dreiunddreißigste Straße, bis auf das Wasser des East River, auf dem früh noch nächtlicher Nebel lagert. Das Astorsche Haus, uns unmittelbar gegenüber, das ich vor Jahren so massiv und prächtig fand, ist längst überflügelt durch die neuesten Riesenbauten. Aus dem bläulichen Morgendunst tauchen sie auf wie Werke eines neuen Geschlechts, voll noch ungeahnter Möglichkeiten, wie die Schlösser künftiger Märchen, gigantisch, himmelstürmend und schön in ihrer Art, weil sie so vollkommen zweckentsprechend sind.

Das erste, was ich heute tat, war, mich mit der Ausschmückung meines äußeren Menschen zu beschäftigen, denn ach, im Sonnenlicht westlichster Zivilisation besehen, erscheint meine chinesische Garderobe doch nicht ganz up to date. Ich fürchte, ich werde die Werke Tientais, dieses einzigsten Pekinger Schneiders, der für die Europäer alles fabrizierte, von Fracks bis zu Maskenkostümen, Ballkleidern und Layetten, nur noch als Reliquien vergangener Zeiten bewahren. Als ich heute in die Salons eines großen Schneidergeschäfts trat und unwahrscheinlich schlanke Damen mit kunstvoll frisiertem rotgoldenen Haar die letzten Modeschöpfungen anlegten und darin vor mir zwischen langen Spiegelreihen auf und ab stolzierten, mußte ich lächeln im Gedanken an das letzte Schneideratelier, in dem ich vor wenigen Wochen noch gewesen – das Atelier Tientais. – Ein paar Schritte von der englischen Gesandtschaft lag es, dicht an der Brücke, die über den Kanal führt. Aus dem Sumpf und den Löchern der Straße konnte man sich auf die Karikatur eines Trottoirs retten, das auch nur aus ein paar übereinander geworfenen Steinen bestand. Schaute man durch die offene Tür in die Schneiderhütte, so sah man ein niedriges Zimmerchen, dessen Wände mit Modebildern besteckt waren; mehrere Chinesen saßen darin, eifrig nähend an Herren- und Damenkleidern; in einem Winkel lag ein Haufen englischer Stoffe, die zu „Nummer-Eins“-Kostümen verarbeitet, von der Pekinger europäischen jeunesse dorée bei den Frühlings- oder Herbst-Rennen eingeweiht wurden.

Andre Städtchen! andre Mädchen! Wie würde Tientai staunen, wenn er hörte, daß die Säle mit den Spiegelscheiben, vor denen die blonden Houris auf und ab paradieren, die Behausung eines amerikanischen Tientais sind.

Als ich meinen Namen und meine Adresse angab, ertönten kleine Schreie freudigen Erstaunens von der Direktrice, den Verkäuferinnen und den schönen Probiermamsells: „Was, Sie sind die Dame, die gestern aus Peking angekommen ist?“ „Wir haben es alles in den Morgenblättern gelesen.“ „Sie wohnen im Waldorf und haben einen Chinesen mitgebracht.“

Alle wollten mich nun bedienen, und jede hatte eine andere Frage über China und vor allem über die alte Kaiserin; die Existenz anderer Kunden schien vergessen. Aber die Direktrice, Madame Blanche, führte mich in einen kleinen Nebensalon, und während ich die ausgewählten Kleider anprobierte, schwirrten Fragen an mich und Weisungen an die Rock- und Taillenarbeiterinnen wirr durcheinander.

„Und ist die alte Kaiserin wirklich eine so böse Frau?“

(„Miß Caroline, bitte die Taille etwas enger.“)

„Wir haben so viel Sympathie für den armen kleinen Kaiser.“

(„Miß Harriet, bitte, straff über den Hüften und von den Knieen an weit und faltig.“)

„Ist es wahr, daß sie ihn auf einer kleinen Insel gefangen hält?“

(„Recht weit über die Büste, Miß Caroline, das Fichu voll drapiert, du flou toujours du flou.“)

„Was kann man aber auch von einer Heidin erwarten!“

(„Miß Harriet, den Rock recht lang, das gibt etwas schwebendes.“)

„Und hat der Kaiser wirklich dreihundert Frauen?“

(„Die Ärmel enger, Miß Caroline.“)

„Natürlich haben Sie die Kaiserin gesehen! Wie interessant muß das gewesen sein! Aber von Toilette haben die Damen des Pekinger Hofes wohl nur wenig Idee?“

(„Mehr Grazie im Faltenwurf, Miß Harriet, soignez la ligne.“)

„Saß die Kaiserin wirklich auf einem goldenen Drachen?“

(„Miß Caroline, il faut avantager madame.“)

„Nein, es geht doch nichts über reisen und fremde Völker sehen. Aber man darf sie natürlich nicht wie uns beurteilen – es sind ja nur arme Heiden!“

(„Miß Harriet, nehmen Sie noch einmal genau die Maße.“)

„Seien Sie versichert, daß wir alles aufs beste für Sie liefern werden. Wir interessieren uns außerordentlich für Sie. Wir haben noch nie eine Kundin gehabt, die bei der Kaiserin von China gewesen ist.“

Und so verdanke ich es denn der Kaiserin von China, wenn meine New Yorker Kleider wirklich ganz besonders schön ausfallen!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe, die ihn nicht erreichten.