1. New York, November 1899.

Lieber Freund! Heute besuchten mich der alte Mr. Bridgewater und seine Töchter. Er hat lange Jahre in Europa zugebracht und war amerikanischer Gesandter in Petersburg, woher mein Bruder und ich ihn kennen. Jetzt lebt er mit seinen Töchtern ganz in New York und in Tuxedo Park. Er steht hier an der Spitze großer, wohltätiger Institutionen, schriftstellert und reist häufig nach Europa, mit jener amerikanischen Leichtigkeit, die eine Art Gottähnlichkeit an sich hat, da sie über Raum, Zeit und Geld erhaben zu sein scheint.

Mr. Bridgewater erzählte mir von der großen Veränderung, die sich in Amerika seit dem Kriege gegen Spanien in der öffentlichen Meinung und in den politischen Anschauungen vollzogen habe. Diese Veränderung drückt sich in einem enorm gesteigerten Selbstgefühl aus. Die ganze Nation ist vom Glauben, zu etwas Besonderem bestimmt zu sein, erfüllt, ein Glaube, durch den schon soviel Großes auf der Welt erreicht worden ist. Sie fühlt sich als politische Erwählte des Herrn. Und es ist eine ganz amüsante Mischung der Gefühle, vor denen man als Zuschauer steht: ganz trocken prosaische Berechnungen von künftigen Handelsvorteilen, die errungen werden sollen, und daneben eine beinah religiöse Begeisterung für den Beruf, andern Licht und Freiheit zu bringen, aber nicht etwa nur den wilden Völkern – da haben wir ja alle dieselbe Pretension, Händler und politischreligiöse Apostel zu sein –, sondern gerade auch uns armen, umnachteten Europäern. Amerika fängt an, nach allen Seiten seine Fühlfäden auszustrecken – kann wahrscheinlich gar nicht anders, denn man empfängt hier den Eindruck einer angesammelten Kraftfülle, die ungeduldig auf den Moment wartet, sich zu betätigen, der dabei gar keine Wahl bleibt, sondern die durch die Logik der Dinge getrieben werden wird, sich weitere Grenzen zu suchen, sich in immer neuen Weltfragen geltend zu machen.


Wie der einzelne Amerikaner sich schon seit jeher stets den Besten jedes anderen Landes gleichgefühlt hat, und sein persönlicher Unternehmungsgeist keine Schranken kannte, so hält sich Amerika jetzt als Nation auch für fähig und berechtigt, alles zu erringen, was es will. Und was Amerika will, ist die Welt. Die Welt will ja jeder, der auch nur die geringsten Chancen hat, sie je zu besitzen – und die Chancen Amerikas sind unheimlich gut! Schon deshalb haben die Amerikaner soviel Aussichten, ihre Ziele zu erreichen, weil sie alles mit ihrem großen Sinn fürs Praktische, ihrer angeborenen Organisationsgabe anfassen; weil es eine Nation selbständiger Menschen ist, die individuell genommen, dem Europäer überlegen sind. Ursprünglich stammen sie ja gerade von jenen ab, denen es in Europa zu eng und unfrei war, von Leuten, die durch ihr Unabhängigkeitsgefühl in neue Welten getrieben wurden, wo sich ihre Persönlichkeit ungehemmt entfalten konnte. Diese ererbte Eigenschaft bildet den Grundzug der neuen Rasse, und es hat sich in ihr eine ganz andere Initiative und persönliches Verantwortungsgefühl ausgebildet, als im alten Europa. Vor allem anderen lernen die Amerikaner für sich selbst zu sorgen und sich nicht auf die Führung anderer zu verlassen.

Eine Folge ihrer kräftigen Jugendlichkeit ist es, daß sie die politische Nervosität, an der man in Europa so oft leidet, noch nicht kennen. Die in manchen europäischen Ländern so beliebte Beschwichtigungsformel: „Laßt nur die anderen koloniale Gebiete erobern, sie werden schon dran verbluten“, ist den Amerikanern ganz fremd. Eine Auffassung, die ungefähr so klingt, als ob ein Eunuche sich damit trösten wolle, daß man durch Liebesaffairen mitunter in Unannehmlichkeiten geraten kann. Die Nordamerikaner dagegen haben vorläufig durch Verkündigung der Monroe-Doktrin ihren ganzen Erdteil für Tabu erklärt, sie möchten aber am liebsten diese Doktrin auf die ganze Welt ausdehnen, wobei sie besonders den fernen Osten im Sinn haben, seitdem sie dort Fuß gefaßt haben. – Vorläufig spricht man in Amerika freilich nur von friedlicher, kommerzieller Expansion, aber Überraschungen kann es auf diesem Wege leicht geben, denn seit dem spanischen Krieg gibt es in Amerika eine Partei, die keine Scheu mehr vor europäischen Mächten kennt und sich allen ebenbürtig glaubt. Diese Leute würden bereit sein, es mit jedem aufzunehmen und, wie Mr. Bridgewater durchblicken ließ, am liebsten mit dem, den sie für den gefährlichsten Konkurrenten halten. Mr. Bridgewater warf die Bemerkung hin, daß an England als möglichen Feind am wenigsten gedacht werde. Mit ihrer einstmaligen Mutter würden die Amerikaner am liebsten gemeinsame Sache machen, um eine Art politischen Riesentrust zu schließen, zur endgültigen Regelung der Welt.

Das ist das Weltzukunftsbild, wie es mir ein Amerikaner entwarf. Ich sende es Ihnen in jenes ferne Land, dessen urprosaische, enthusiasmuslose Söhne nur in den Sorgen der täglichen Gegenwart aufgehen und nie Spekulationen über die Zukunft anzustellen scheinen. Und doch könnten vielleicht gerade diese, allen Zukunftsgedanken so abgewandten Leute in der Weltzukunft ein großer Faktor werden – – denn über uns allen steht das Schicksal, und es läßt Handlungen und Gedankenströmungen, einzelne Menschen und Völker oftmals genau den entgegengesetzten Zwecken nützen, denen sie ursprünglich dienen wollten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe, die ihn nicht erreichten.