1. New York, März 1900.

Raten Sie mal, lieber Freund, wer mich heute hier besuchte?

Der Provikar Hofer! Aber ein entchinester, auch im äußern ganz römisch-katholisch gewordener Hofer. Zum letztenmal hatte ich ihn vor zwei Jahren in Pei-ta-ho gesehen, wo er seinen Gesandten besuchte. Wie alle katholischen Priester in China trug er damals den Zopf (ziemlich spärlicher Natur) und chinesische Kleider, der Hitze halber aus dünner weißer Waschseide, die er mehrmals des Tags wechselte, so daß er stets von immakulierter Weiße war und ich ihm dort einmal sagte, er gliche im äußern den Lilien auf dem Felde, aber das Sorgen überlasse er nicht nur dem lieben Gott, sondern halte es darin wohl mehr mit Martha als mit Maria. Heute nun sah ich ihn in gewöhnlicher schwarzer Priestertracht wieder und erkannte ihn anfänglich gar nicht in dieser Rückbildung. Er war aber sonst ganz der Alte, derb, heiter und voll gesunden Menschenverstandes. Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie ich mich freute, jemand zu sehen, der direkt von Peking kam! Beinah ebenso froh war ich wie Ta, der dem Provikar einen kotau-artigen Knix machte und ganz strahlend schien, endlich mal wieder chinesisch sprechen zu können.


Natürlich fragte ich Hofer gleich nach Ihnen. Er sagte mir aber, nachdem was er in Peking gehört habe, glaube er, daß Sie erst im Juni dort eintreffen würden. Da wird es also noch lange dauern, bis ich von Ihnen höre, und während all der Zeit werden auf der Post in Schanghai meine Briefe liegen, die ich immer in der Illusion schreibe, als schwatzte ich mit Ihnen, und als könnten meine Gedanken Sie unmittelbar erreichen. Von den Pekinger Bekannten erzählte mir der Provikar, und obschon er nur alle paar Jahre aus seiner Provinz mal hinkommt, kennt er doch sämtliche dortigen, kleinen und großen Intrigen, als hielte er die Fäde in der Hand. Er ist mir immer ein Beispiel von der merkwürdigen Wohlunterrichtetheit des höheren katholischen Klerus, der alle Diplomaten, diese Regierungsnachrichtensammler, als wahre Stümper weit hinter sich läßt.

Nachdem mir der Provikar die neuesten Begebenheiten von der Société de Pékin mitgeteilt hatte, fragte ich ihn, was seine jetzige Reise bedeute. Er antwortete, daß er auf dem Weg nach Europa sei, um dort darauf aufmerksam zu machen, daß sich in China schlimme Ereignisse vorbereiteten. Er erzählte mir, in seiner Provinz herrschten seit Monaten große Unruhen, die von geheimen Gesellschaften ausgingen und die einen sehr fremdenfeindlichen Charakter trügen. „Daran sind wir ja gewöhnt,“ sagte er, was mich aber ernstlich besorgt macht, das ist, daß diese Unruhestifter offen von den provinziellen Mandarinen in Schutz genommen werden und diese wiederum sich auf die höchsten Autoritäten in Peking berufen. Es sind Missionare und einheimische Christen überfallen worden, ohne daß eine Bestrafung der Täter zu erreichen gewesen wäre; und die in letzter Zeit neu ernannten hohen Beamten sind ob ihres Christenhasses und Einvernehmens mit den geheimen Gesellschaften bekannt. In Peking herrscht eben nicht mehr die Furcht des Herrn, die beim Orientalen ganz besonders aller Weisheit Anfang ist. Wir Missionare im Innern fühlen die Folgen solch veränderter Haltung ja immer am ersten. Wir hören auch manches, was für andere Ohren zu leise gesprochen wird, und durch China geht jetzt das Wort, „man brauche sich nicht zu fürchten, die Stunde der fremden Teufel habe geschlagen“. Favier glaubt wie ich an eine große, nahende Gefahr, denn auch er ist von seinen einheimischen Christen gewarnt worden. Die Führer der Großmessermänner sprechen es ja offen aus: „zuerst die chinesischen Christen, dann die Fremden“. Ich habe dies Wort an die rechte Stelle hinterbracht, da ist mir aber angedeutet worden, wir Missionare seien durch allzu viel Schutz verwöhnt und anmaßend geworden, in früheren Jahren hätten wir Verfolgungsgefahren als die notwendige Begleitung alles Missionierens angesehen und hätten nicht nach Kriegsschiffen und Soldaten zu unserm Schutz gerufen. Ich habe denen in Peking die letzte Warnung gegeben: „Die Gefahr betrifft diesmal die Missionare nicht mehr als die anderen Fremden – vielleicht geht es Euch hier in Peking schlimmer als uns in unsern Provinzen.“

Ich konnte es gar nicht glauben, was mir der Provikar da erzählte. Ich erinnerte ihn an die vollkommene Sorglosigkeit und Sicherheit, mit der alle Fremden, nicht nur in Peking selbst, sondern Sommers in den einsamen, entlegenen Tempeln der Umgegend lebten.

„Wie hat sich denn das alles so schnell derartig verändern können?“ fragte ich ihn.

„Da kam vieles zusammen,“ antwortete er mir. „Seit ein paar Jahren herrscht in mehreren Provinzen Hungersnot, und es ist dadurch ein Grad des Elends entstanden, den man in Europa überhaupt nicht kennt. Viele Arbeiter fürchten auch für ihren kleinen Broterwerb, wegen der Erbauung von Eisenbahnen und der Befahrung der Flüsse mit Dampfschiffen, wovon sie dunkel als von etwas Ungeheuerlichem reden hören. Nachrichten über auswärtige Begebenheiten verbreiten sich in China zwar langsam, noch 1897 erinnere ich mich, Priester und Mandarine in der Gegend von Jehol gesprochen zu haben, die nichts von einem japanischen Kriege ahnten, aber allmählich ist doch die Kunde von den letzten europäischen Annexionen in weitere Kreise gedrungen und hat Beschämung und Erbitterung hervorgerufen. Die wachsende Unzufriedenheit richtete sich anfänglich gegen die Dynastie und Regierung, die all diese Übergriffe zugelassen hatten. Nun ist es aber der Kaiserin gelungen, diesen Zorn von sich abzulenken, indem alle seit dem September 1898 alle fremdenfreundlichen Elemente verfolgt und diese anklagt, an allen Einbussen, die China in den letzten Jahren erlitten, schuld zu sein. Sie umgibt sich mehr und mehr mit den reaktionären Elementen und gibt ihnen zu verstehen, daß sie auf ihre Hilfe gerade gegen die Fremden zählt. Die Kaiserin ist ja eine weit überschätzte Persönlichkeit, die von den realen Machtverhältnissen der Welt keine Ahnung hat – aber sie ist, wie viele sogenannte große Leute, eine Meisterin in der Wahrnehmung ihrer eigenen, augenblicklichen Interessen und fühlt immer rechtzeitig, welche Partei in ihrem Lande gerade die stärkste ist, um sich auf diese zu stützen. Jahrelang stand sie an der Spitze der chinesischen Fortschrittspartei, was allerdings immer eine sehr milde Dosis Fortschritt bedeutet, zur Zeit der chinesischen Niederlagen durch die Japaner hat sie ihren Rückhalt an den fremden Mächten gesucht, und als sie die wachsende Erbitterung im Lande gerade gegen die Fremden wahrgenommen, ist sie zu den Reaktionären übergeschwenkt. Heute wissen alle fremdenfeindlichen Mandarine und Geheimbündler, daß die Kaiserin nur auf ihre Erfolge wartet, um sich offen zu ihnen zu bekennen.“

„Aber es ist doch nicht denkbar, daß man dem ruhig zusehen und nur abwarten wird, was weiter geschieht?“

„Hoffentlich gelingt es mir in Europa von der nahenden Gefahr zu überzeugen – in Peking wollte man Favier und mir nicht glauben. Eine Krise wäre allen unbequem, drum will sie niemand kommen sehen. Es gilt jetzt eben die Parole, in China herrsche Ruhe und Ordnung und alles dort angelegte Kapital würde in nächster Zukunft Goldströme einbringen. Wer an diesem bequemen Optimismus rüttelt, ist natürlich unwillkommen und am unwillkommensten den Geldleuten, deren Einfluß der unheilvollste von allen in China gewesen ist. Diesen Herren zu Liebe, die geborgen in Europa sitzen, und die selbst nie chinesischen Mördern und Boxern, chinesischem Klima und Kriege zum Opfer fallen können, wurden den Chinesen Eisenbahn- und Minenkonzessionen abgerungen. Es ging den Finanzleuten nie schnell genug, sie konnten nie genug bekommen. Mehr als jede Regierung waren sie von ihrer Allwissenheit überzeugt und hörten auf keinerlei Vorstellung, die ihnen von Peking aus gemacht wurde.“

„Ja“, sagte ich, „davon wissen die geschäftlichen Vertreter der Finanzbarone in Peking einiges zu erzählen. Aber nicht nur diese konnten ihnen nie genug erwerben, auch die Gesandten klagten darüber, daß sie getrieben würden, Dinge durchzusetzen, die sie selbst für unheilvoll hielten.“

Der Provikar fuhr fort: „Ich habe damals in Peking mit Mandarinen gesprochen, die derartige Verhandlungen zu führen hatten. Es waren Leute darunter, die den besten Willen hatten, die gerecht waren und sich innerlich zu den nötigen Konzessionen entschlossen hatten. Aber sie sind verzweifelt zu mir gekommen und haben mir geklagt, die immer neuen Forderungen, die an sie gestellt würden, könnten sie unmöglich dem Throne empfehlen. Man kenne keine Rücksicht auf chinesisches Empfinden, es sei auch kein Ende abzusehen, immer wieder kämen neue, weitergehende Verlangen. – Schritt für Schritt mußten sie dann doch nachgeben. Schließlich sagte mir mal der eine: ‘Das, wozu ich jetzt gezwungen werde, meine Regierung zu überreden, wird die reaktionäre, fremdenfeindliche Partei ans Ruder bringen, und mir wird es noch mal den Kopf kosten.’ Und er hat mit beidem recht gehabt. Die gierige Unersättlichkeit der Fremden hat die chinesische Regierung der reaktionären Partei in die Arme getrieben, und jener chinesische Unterhändler ist eines ihrer ersten Opfer, eine Art Sündenbock geworden. Nachdem er alle Ehren seines Landes besessen, sitzt er heute verbannt in Turkestan, falls er überhaupt noch am Leben ist. Er ist eine tragische Figur der modernen chinesischen Geschichte.“

Aber was ist jetzt noch zu tun möglich?“ fragte ich.

„Vor allem in Peking keine Inkonsequenz, keine Schwäche zeigen. Auch könnte man der alten Kaiserin einmal ernstlich drohen, daß man gegen sie für den jungen Kaiser und seine Reformfreunde Partei ergreifen würde. Das ist eine Karte, die noch gar nicht ausgespielt worden ist. Und vor allem, auf alle Möglichkeiten gefaßt sein, immer Gesandtschaftswachen in Peking halten und berittene Mannschaften zur Hand haben, die auf die geringste Gefahr hin in Tientsin ausgeschifft werden können, um die Bahn zu schützen.“

„Und nun wollen Sie das alles in Europa vortragen?“

„Ja, ich halte es für meine Pflicht, noch einmal zu warnen, denn wenn man den jetzigen Moment versäumt, und nicht noch Einhalt geboten wird, so muß gerade das eintreten, was man vermeiden möchte, und wir können in China eine Katastrophe erleben, wie sie noch nie dagewesen. Aller Handel, alle dortigen Unternehmungen werden auf Jahre hinaus unterbrochen werden, und wir müssen notwendigerweise in Verwicklungen, Opfer und Ausgaben geraten, die sich gar nicht absehen lassen.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe, die ihn nicht erreichten.