1. New York, Februar 1900.

Lieber Freund, meine letzte Wanderung im winterlichen New York ist mir recht schlecht bekommen. Ich bin seitdem krank gewesen an Husten und Fieber. Husten und Fieber sind ja nun schon seit Jahren die Meilensteine, die an meinem Lebensweg stehen. Schließlich wird solch Meilenstein zu einem Kreuzchen werden. Und wohin der Weg dann weiter geht und ob es überhaupt noch einen gibt, das weiß man nicht.

Es geht mir aber jetzt schon ein bißchen besser. Ich liege auf dem Sofa am Kamin. Die weiße tibetanische Ziegenfelldecke, die Sie kennen, ist über mich gebreitet. Ta geht mit bekümmertem Gesicht ein und aus. Ich weiß nicht, gilt seine Sorge mir, oder den vielen Briefen, die er in letzter Zeit von zu Hause erhalten hat.


Gestern schenkte mir mein Bruder ein paar Zweige weißen Treibhausflieders. In Seidenpapier wohl eingewickelt brachte er sie von draußen mit – so ein armer, winterlicher Flieder – all die Blütchen schienen zu frösteln und sich zu wundern, warum man sie gezwungen habe, sich so sehr zu beeilen, in diese unfreundliche Welt hinein zu kommen.
Jetzt stehen die braunen Stengel, an denen oben die spärlichen weißen Blütentrauben hängen, in einer schlanken, grünen Bronzevase neben mir. Die Blumen haben sich etwas erholt, als seien sie dankbar, nun doch noch ein leidliches Plätzchen gefunden zu haben. Ein schwacher, schüchterner Fliederduft, der beinah etwas Künstliches hat, steigt von ihnen auf und zieht durch das Zimmer.

Er weckt viel Erinnerungen. Denn Flieder mahnt mich an gar verschiedene Zeiten und Orte.

In Garzin, dem märkischen Gut, wo ich aufgewachsen, da blühte der Flieder im Mai. Vier große Büsche standen auf dem Rasen vor dem Schloß, in ihrer Mitte eine alte Sonnenuhr. Jeden Frühling, wenn der Flieder blühte, kam derselbe alte Invalide auf einem Stelzfuß angehumpelt; er stellte sich im Schloßhof auf und spielte uns auf seiner Drehorgel „Die letzte Rose“ und „Lang, lang ist’s her“. Ich weiß nicht, wo er Winters blieb, aber in all meinen frühesten Frühlingserinnerungen steht der Invalide mit der Drehorgel, und der Flieder duftet, und wir Kinder suchen fünfblättrige Fliederblüten – denn die sollten Glück bringen wie vierblättriger Klee. Einmal schenkte ich dem alten Drehorgelmann solch ein fünfblättriges Blümchen – aber der glaubte nicht recht daran.

An so viele Zeiten und Orte mahnt der Duft!

Sogar im blumenarmen Peking gab es Flieder. In allen Gesandtschaftsgärten standen eine Menge Büsche. Im April über Nacht erblühten sie mit einemmal, alle zugleich. In allen Wohnzimmern, auf allen Speisetischen war dann die gleiche weißlila Pracht und Fülle. Vierzehn Tage dauerte der Blumenzauber. Das war die einzige Zeit des Jahres, wo es in Peking gut roch.

In den Tagen der Fliederblüte gab Sir Robert Hart regelmäßig eines seiner Gartenfeste. Die chinesische, uniformierte Kapelle, die er sich hielt und auf die er sehr stolz war, spielte die paar europäischen Weisen, die ihr ein portugiesischer Kapellmeister aus Macao beigebracht hatte. Mit den altbekannten, nur zuweilen unfreiwilligerweise etwas veränderten Melodien zog durch den Garten der heimatliche Fliederduft. Männlein und Weiblein der Société de Pékin wandelten in den paar Alleen auf und ab und zeigten Tientais neueste Modeschöpfungen; sie gingen paarweise, persönlicher Neigung folgend, oder gruppierten sich je nach der augenblicklichen politischen Konstellation. Politik ist eine Würze, die in Peking gern allem beigemischt wird. – Zum Schluß dieser geselligen Vereinigungen wurde dann immer eine Quadrille auf dem kleinen holperigen Rasenplatz getanzt. Man tat jedesmal so, als sei diese Quadrille der spontane Ausdruck überströmender festlicher Stimmung – aber sie war im Programm immer ganz vorgesehen.

Das war alles ganz stereotyp – denn alle Dinge in China haben die Neigung, stereotyp zu werden!

Solche Vergnügungen in entlegenen Plätzen haben mir immer etwas so unendlich Wehmütiges. Sie sind ein offenbarer Versuch der Selbsttäuschung, zu dem so sehr viel guter Wille gehört. Kleine rührend traurige Bemühungen, um zu vergessen, wo man ist, was alles fehlt. Der festgefaßte und ernsthaft durchgeführte Vorsatz, auch einmal „große Welt“ zu sein.

Wie tieftraurig bin ich doch schon oft inmitten solch künstlich verpflanzter und betriebener Amüsements gewesen – sie erinnern an kümmerlichen weißen Winterflieder – der ist auch nichts Rechtes!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe, die ihn nicht erreichten.