1. New York, Dezember 1899.

Lieber Freund! Wir sind seit einigen Tagen aus dem ebenso schönen wie teuren Waldorf-Astoria fortgezogen und haben sehr nette Zimmer in einem Boarding House in der Nähe des Central-Parks gefunden, wo auch Mme. Baltykoff wohnt. Ta ist natürlich bei uns und bildet hier wie im Waldorf die Freude der weißbemützten Stubenmädchen. Er ist hier viel weniger reserviert gegen uns als in Peking. Dort erfuhren wir eigentlich nie etwas über das Leben unserer Boys. Sie waren immer da, wenn man sie brauchte, verrichteten ihre Arbeit lautlos, kannten all unsere kleinen Gewohnheiten offenbar ganz genau – aber mit dem Augenblick, da sie aus unseren Häusern hinaus auf die Straße traten, verloren sie sich in einer uns unbekannten Welt, und von diesem Teil ihres Lebens hörten wir nie ein Wort. Nur wenn sie mal einen etwas längeren Urlaub haben wollten, hieß es, ihr Vater oder ihre Mutter lägen im Sterben. Anfänglich rührte mich das sehr, ich bewilligte ihnen immer den Urlaub, bot ihnen auch Arzneien an. Aber sie hatten wirklich zu viel sterbende Väter und Mütter – mein Vorrat an Mitgefühl ward so sehr beansprucht, daß er sich schließlich erschöpfte. Hier ist es ganz anders; Ta ist oft recht mitteilsam gegen mich und erzählt mir von den Stubenmädchen, die ihn seines langen Zopfes halber gern als Dame verkleiden und ihn sogar auf einen ihrer Bälle mitgenommen haben. Hier bin ich ihm offenbar „Vater und Mutter und Beschützer der Armen“, wie die Inder sagen; ich erscheine ihm als einziges Bindeglied zwischen seinem früheren und jetzigen Leben. Seitdem er hier so viel Neger gesehen, hält er, glaube ich, weiße Leute überhaupt für beinahe stammverwandt. „Das sind keine Menschen, das sind schwarze Teufel“, sagte er ganz ernsthaft, und will keinesfalls zugeben, daß sie Christen wie er sein könnten. Auf andere herabzuschauen, ist für Wesen aller Nuancen nun mal eine freudige Genugtuung.

Ta hat ein paarmal Briefe von seiner Heimat bekommen. Er ist an solchen Tagen immer sehr still und traurig, und ich fragte ihn, ob er Heimweh habe. Er antwortete, nein, gar nicht, er sei sehr gern hier, aber seine alte Mutter ließe ihm immer schreiben, er solle doch wieder kommen, sie möchte ihn gern bei sich haben. „Ist es nicht eher deine junge Frau?“ fragte ich. „Oh nein!“ rief er entrüstet, als habe ich ihn einer beschämenden Schwäche beschuldigt, „Frau gar nichts, Mutter alles!“ Mein Bruder hat nun für die Mutter Geld nach Peking geschickt, was sie hoffentlich beruhigen wird.


Mit Tas Hilfe habe ich jetzt ausgepackt und unsere Wohnung eingerichtet. Es war eine solche Freude, all die lieben gewohnten Dinge wiederzusehen: die Nephritschalen und Bronzevasen, die Figuren des Laotse, mit dem langen Kopf, aus Elfenbein geschnitzt, die chinesischen Sammte, die mit dem Alter einen ganz chinesischen Charakter angenommen haben, die feinen verblaßten Damaste und Stickereien. Ich habe alles möglichst so gestellt und drapiert, wie es im Pekinger Häuschen war; in der Dämmerstunde, wenn Ta lautlos ins Zimmer tritt, glaube ich manchmal, wieder dort zu sein und würde mich gar nicht wundern, wenn er Sie anmeldete.

Auch einen Buddha-Altar habe ich über dem Kamin aufgebaut, und da thronen all die seltsamen Gestalten, die Sie allmählich bei bestechlichen Bonzen, in verlassenen Tempeln und verstaubten Antiquarläden für mich aufgestöbert haben. Noch ehe ich Sie in Peking kannte, hatte ich die Manie, Buddhas zu sammeln. Ich hatte mehrere von Händlern gekauft, die sie, in ihren weiten Ärmeln versteckt, zu uns trugen und dabei geheimnisvoll flüsterten, diese Götzen stammten aus kaiserlichen Tempeln, und es sei ein großes Risiko, sie zu mir zu bringen. Ich zeigte Ihnen sehr stolz diese Schätze; Sie schauten sie einen Augenblick prüfend an und sagten dann: „Gar nicht übel für moderne europäische Imitation“. Das war ein harter Schlag, und ich war Ihnen zuerst beinah böse, denn nichts tut weher, als liebe Götzen zu verlieren. Und ich hatte die meinigen so ehrerbietig behandelt und immer frische Blumen vor sie hingestellt! Aber es sei Ihnen verziehen, denn Sie haben die falschen Buddhas durch wahre ersetzt, und das tun die wenigsten Leute, die andern ihre Götter nehmen.

Es ist ja auch nicht eben leicht! –


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe, die ihn nicht erreichten.