1. Banff, September 1899.

Die Frühsonne scheint in mein Zimmer, lieber Freund, draußen zwitschern Spatzen, die sich in der Jahreszeit irren und jetzt beim nahenden Herbst noch an Frühlingsidyllen denken, und ich will den Tag beginnen, indem ich Ihnen guten Morgen zurufe, hinaus in die unergründliche Weite. Möge Ihnen ein freundlicher Lufthauch meinen Gruß bringen – wo Sie auch sein mögen. Ich fürchte, es kann dort nicht so schön sein wie hier.

Das hiesige Hotel liegt auf waldigem Bergrücken, in größter Einsamkeit, und erinnert an manche Tiroler Burgen. Von unseren Fenstern aus haben wir einen weiten Blick auf ein Gebirgstal, in dessen Tiefe, zwischen hohen Fichten, ein Bach fließt, der, zur Zeit da Eis und Schnee schmelzen, zum reißenden Strome wird. Im Hintergrund erheben sich steile, schneebedeckte Felsen.


Nach der langen Reise ist die hiesige Behaglichkeit an sich ein Genuß. Es ist herrlich, wieder mal in einem Bett zu schlafen, das weder schwankt noch schüttelt, und Mahlzeiten einzunehmen, ohne Sorge, daß der Zug abfährt, oder daß der gegenübersitzende Reisende seekrank wird.

Dicht neben dem Hotel ist ein großes, offenes Schwimmbassin, das von warmen Schwefelquellen gespeist wird. Fichten stehen ringsherum und das laue Wasser, der Sonnenschein und die köstliche würzige Luft bilden zusammen einen so wonnigen Aufenthalt, daß man im Sommer sicher gern Stunden dort verbrächte. Weiter unten, dem Tale zu, sind natürliche Grotten mit sprudelnden Quellen und tiefen Teichen, die geheimnisvoll unter den überhängenden Felsen verschwinden. Das Wasser ist so klar, daß man tief unten auf dem Grund die weißen Sandflächen und die einzelnen Kieselsteinchen schimmern sieht. Ich muß dort immer an die schöne Undine denken. In solch tiefen, klaren Wassern ist sie gewiß, unbewußt glücklich, wie die silbrigen Fischchen, herumgeschwommen, bis sie hinauf zur Welt stieg und unglücklich ward, weil sie sich einbildete, daß es nötig sei, eine Seele zu haben. Hätte doch irgend ein welterfahrenes Wesen der armen Undine erklärt, daß Seelenbesitz der entbehrlichste von allen ist, und daß die kalten, schlüpfrigen Fischchen am besten durch die Welt kommen, mit ihren geheimnisvoll grünlichen Augen, die so tief scheinen und auf deren Grund gar nichts ist.

Wir haben hier einen Offizier kennen gelernt, der die Mounted Police des Distriktes befehligt. Im Winter muß das ein recht einsamer Posten sein, wenn das Hotel geschlossen ist und die ganze Welt weit und breit unter tiefem Schnee begraben liegt. Im Sommer dagegen und auch jetzt noch in den schönen Herbsttagen scheint Kapitän White ein ganz lustiges Leben zu führen. Er ist beständig hier im Hotel und die Damen sehen ihn alle als eine Art Badedirektor an, der für die Vergnügungen der ganzen Gesellschaft verantwortlich ist. In der Halle, wo in zwei großen Kaminen halbe Baumstämme knisternd verbrennen und an den Wänden und auf dem Boden herrliche dicke Felle liegen, flirtet er mit schönen blauäugigen Kanadierinnen, die hier mit allerhand Sports die Saison zubringen; er flirtet mit amerikanischen „Summer Girls“, die es origineller gefunden haben, sich Kanada statt Europa anzusehen, und er flirtet mit blassen, verwaschen aussehenden Engländerinnen aus Hongkong, die alljährlich in immer größerer Zahl hierher kommen, um sich vom dortigen erschlaffenden Klima zu erholen. Es werden täglich große Ausflüge unternommen, zu denen die ganze Gesellschaft meist in Kapitän Whites Coach fährt. Er kutschiert vortrefflich, aber es sieht ganz abenteuerlich aus, wenn er mit seinem Viergespann die steilen Korkenzieher-Wege hinauffährt, in so scharfen Windungen, daß das erste Paar Pferde oft genau eine Etage höher zu stehen kommt, als das zweite und der Wagen. Gestern saß ich bei solcher Fahrt neben Kapitän White, und auch bei den halsbrecherischsten Stellen erzählte er lustig weiter, besonders von den Wintersports und von den hiesigen Indianern. Er sagte mit dem Brustton englischer Selbstgefälligkeit, die Regierung sorge für sie mit Geld und Proviant – ich finde das eigentlich das Mindeste, nachdem man den armen Leuten ihr Land weggenommen und ihnen als besondere Gastgeschenke Trunksucht und allerhand Epidemien gebracht hat. Von Zeit zu Zeit sollen die Indianer noch jetzt große Versammlungen abhalten, bei denen ungeheure Mengen Branntwein getrunken werden und die alten Krieger sich unter lautem Beifall all ihrer einstmaligen Morde und Diebstähle rühmen. Um den Alten an Mut nicht nachzustehen und da Raub und Totschlag im modernen Kulturstaate doch sehr unangenehme Konsequenzen haben, bringen sich die jungen Männer in den Versammlungen eigenhändig große Wunden bei und werden dann auch als Krieger in den Bund aufgenommen.

Wir fuhren gestern nach dem Devil’s Lake, einem tiefblauen See klarsten Wassers, der von hohen Felsen umgeben ist. Warum er gerade mit diesem Namen bedacht worden ist, konnte ich nicht ergründen. In allen Ländern kommt aber diese Benennung so häufig vor, daß man unwillkürlich annehmen muß, der Glaube an die Allgegenwart des Teufels sei weit mehr als derjenige an eine andere Allgegenwart im tiefinnersten Bewußtsein der Menschen lebendig.

Der Glaube an Gespenster, an böse Geister, anders auch Teufel genannt, ist ja sicherlich älter als der eigentliche Gottesglauben, denn aus der Angst vor bösen, unerklärlichen Mächten ist aller Kultus entstanden; er diente anfänglich immer dazu, Unheil von den armen Menschen abzuwenden, die von den bösen Geistern verfolgt wurden: die ursprünglichen Kultformen sind immer abwehrender Art und vielen, vielleicht den meisten Menschen, erscheint ihre Gottheit auch heute ja noch als ein erzürntes Wesen, das versöhnt werden muß.

Dieser kanadische Teufelssee erinnerte mich sehr an einen kleinen See in den Pyrenäen, den ich vor Jahren einmal sah. Dort steht auf einem Felsen ein kleines Kreuz, und der baskische Führer zog das breite wollene Barett ab, bekreuzigte sich und sagte, an der Stelle sei ein Liebespaar ertrunken. Jung, wie ich damals war, rührte mich das sehr. Als ich aber bis zu dem Kreuz geklettert war, las ich eine so alte Jahreszahl, daß das Liebespaar, wenn es statt zu ertrinken, alt und grau geworden wäre, und Urenkel erlebt hätte, unter allen Umständen doch längst hätte tot sein müssen. Das dämpfte meine Rührung. So oder so – ein Kreuzchen wäre doch schon längst das Ende – vielleicht war’s besser so.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe, die ihn nicht erreichten.