Briefe berühmter christlicher Zeitgenossen über die Judenfrage. - 01 -
Nach Manuskripten gedruckt und mit Autorisation der Verfasser zum ersten Male herausgegeben, mit biographischen Skizzen der Autoren und einem Vorworte versehen von J. Singer.
Autor: Singer, Isidore (1839-1939) österreichisch-amerikanischer Schriftsteller und Lexikograph, Erscheinungsjahr: 1885
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Religion, Deutschland, Verfolgung der Juden, Judentaufen, Frankfurt, Mainz, Mittelalter, Bildung, Gleichberechtigung, Bürgerechte, Patriotismus, Glauben, Wissenschaft, Judenemanzipation, Regensburg, Mecklenburg, Preußen, Geschichte, Historiker, Geschichtsschreiber, Handelsbedeutung der Juden.
Die Schutzwälle, welche die Vormänner des Judentums gegen die immer heftiger werdenden gemeinsamen Angriffe des Muckertums und der ungeheuren Schar der durch die heutigen misslichen Gesellschaftszustände geschaffenen Unzufriedenen, zu errichten sich bemühen, drohen der wider sie anstürmenden physischen Übermacht gegenüber ohnmächtig zu werden. Denn wenn auch die „Hepp-Hepp“-Rufe gegenwärtig nicht mehr, wie zu Beginne der Bewegung, laut auf den Straßen vernehmbar werden, so kann sieb der tiefer Blickende trotzdem der traurigen Wahrnehmung nicht verschließen, dass heute das schleichende Fieber des Antisemitismus bis in die tiefsten Poren der Gesellschaft gedrungen ist und bereits Volksteile zu infizieren beginnt, deren gesunder Kraft man eine größere Widerstandsfähigkeit gegen den Krankheitskeim zugemutet hätte: Ich meine die intelligenten Kreise der Bevölkerung. Dieser Umstand gibt Jedem, der sich nicht befangen in einen bestimmten Ideenkreis eingesponnen hat, viel zu denken. Muss man nämlich da nicht unwillkürlich fragen: Hat der Antisemitismus denn doch vielleicht eine gewisse Berechtigung und tragen die Juden, gegen welche die Bewegung gerichtet ist, nicht selbst die größte Schuld an derselben? — Ich habe in meiner letzten, die Frage des Antisemitismus behandelnden Schrift, *) ohne Rücksicht auf die Empfindlichkeit eines gewissen Teiles meiner eigenen Glaubensgenossen, einige Krebsschäden aufgedeckt, an denen das Judentum der Gegenwart leidet und die unzweifelhaft den äußeren Anlass oder doch den Vorwand zu der antisemitischen Bewegung gegeben haben. Ich legte dort das offene Geständnis ab und ich wiederhole es auch heute: Ja wohl, ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung Europas ist krank. Aber ich frage auch hier: Leidet er nicht an den Nachwehen der Wunden, die ihm die Hand geschlagen hat, die jetzt wieder erbarmungslos gegen ihn sich erhebt? Wir Juden haben uns erst seit Kurzem von dem schweren Krankenlager erhoben, auf dem wir durch fast zwei Jahrtausende von den Völkern Europas festgehalten wurden. Dort, wo die Sonne der Freiheit und Bildung leuchtet, hat sich ein Teil der Kranken trotz der kurzen Frist bereits so vollkommen erholt, dass seine Gesundheit sogar Gegenstand des Neides zu werden beginnt. Der größte Teil jedoch ist — um bei dem Bilde zu bleiben — erst in der Rekonvaleszenz begriffen. Ist es aber nicht grausam, den Rekonvaleszenten, der bleichen Angesichts, an den Stab gelehnt, sein Krankenlager verlässt, um sich an den Strahlen der Sonne zu wärmen, wieder in die dumpfe Krankenstube zurückstoßen zu wollen? Wenn rohe Gesellen dies tun, so wendet man physische Mittel an, um sie das Ungeziemende ihres Benehmens auf der Stelle fühlen zu lassen. Treffen wir jedoch auch Vertreter der Intelligenz bei dem Bubenstücke an, so muss uns die Schamröte ins Gesicht steigen, und wir fragen uns wehmütig: Vermag auch die höhere Bildung nicht, die Bestie aus dem Menschen auszutreiben?
*) „Sollen die Juden Christen werden?“ 2. Aufl. 1884.
Wilden Pöbelmassen gegenüber, welche, mit Steinen und Sensen bewaffnet, johlend gegen die Häuser der Juden sich heranwälzen, sind wir, als die numerisch Schwächeren, ohnmächtig; der Staat muss uns, wie wir es bei den Judenverfolgungen in Russland und den rohen antisemitischen Exzessen in einigen Teilen Ungarns und Deutschlands sahen, wie zur Zeit einer Revolution, mit bewaffneter Macht zu Hilfe kommen. Und der Antisemitismus ist — darüber mögen sich die Hüter der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung keiner Täuschung hingeben — nichts anderes, als der Beginn der großen sozialen Revolution. Denn wie Ludwig Foglar sehr treffend bemerkt, „segeln unter der Fahne des Antisemitismus die Finsterlinge, Denkfaulen und Abenteurer aller Sorten. Aber ehe sie dessen sich versehen, kann das Wetter umschlagen, die beschworenen Geister wollen sich nicht bannen lassen und dann kann die Losung auch lauten: Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ Und ist es in der Tat nicht ein so recht revolutionärer Zug, die blinden Volksmassen ins Feuer zu schicken, während die intelligenten Urheber des Kampfes sich auf einen sicheren Ort zurückziehen „Niederträchtig freilich ist die Rolle“, sagt Karl Braun - Wiesbaden mit Recht, „welche jene vorsichtigen und heuchlerischen Hetzer spielen, die der strafgerichtlichen Verantwortung aus dem Wege zu gehen wissen, aber gerade deshalb um so verdammenswert her sind und die moralische Verantwortung für alle von den Irregeleiteten verübten Verbrechen nicht von sich abzuwälzen vermögen.“ Doch jene gewissenlosen Volksaufwiegler, die meist bezahlte Diener der Reaktion und des Jesuitismus sind, wollen und können wir nicht zur Vernunft bringen. Denn vor dem Glänze des Goldes erbleichen bei charakterlosen Individuen alle Vernunftgründe. Und die Jesuiten haben während ihrer Jahrhunderte dauernden Macht des Goldes eine Menge zusammengescharrt, die sie nun, den veränderten Verhältnissen der Zeit Rechnung tragend, in dieser Weise für ihre Zwecke zu verwerten bestrebt sind. Denn nach meiner Überzeugung ist es unzweifelhaft, dass es nicht lange mehr währen wird, wo der Antisemitismus in seiner gegenwärtigen Gestalt von der Bildfläche verschwinden wird. „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan; der Mohr kann gehen“ wird es in nicht ferner Zeit heißen und mit dem Stichworte „Reaktion“ wird ein schwarzer Ritter, mit ehernen, mittelalterlichen Waffen bekleidet, auf die Bühne der Gegenwart treten. Eingeschläfert durch den sozialen und politischen Frieden der 60er und 70er Jahre wähnten wir nämlich den eisernen Ritter längst bei den Toten: Der Gedanke war so schon! So mancher deutsche Geschichtsforscher mag schon das Material zu einer „Geschichte der Reaktion in Mitteleuropa“ gesammelt haben. Lege deinen Kiel wieder nieder, törichter Idealist ! Denn noch immer umflattern die schwarzen Raben den Kyffhäuser, und der lichte Genius der Menschheit, der tief unten im Berge nur von Zeit zu Zeit fröhlich lächelnd aufblickt, um die unter ihrem Joche schwer seufzende Menschheit wenigstens für Augenblicke zu erheitern, droht wieder einzuschlummern. Doch verzagen wir nicht; trösten wir uns mit der erhebenden Hoffnung, dass denn doch einmal der Tag kommen müsse, wo Ahriman von Ormuzd niedergeworfen, in die Unterwelt zu den Toten wandern werde.
Jawohl; man kann es nicht oft genug wiederholen: Hinter den Antisemiten stehen die Schwarzrocke mit ihrem Gefolge, den bürgerlichen Reaktionären und den adeligen Feudalen. Haben einmal Jene durch ihr Treiben den Samen der Unzufriedenheit unter das Volk gestreut, dann kommen die „Diener Roms“ hervor, waschen ihre Hände in Unschuld und predigen dem „gottverlassenen“ Volke Umkehr in den „Schoß der Kirche“, die doch allein im Stande sei, Kummer und Sorge zu verscheuchen und die Wunden des Herzens zu heilen. Und das arme Volk wird wieder seinen Nacken demutsvoll unter das „sanfte Joch“ Roms beugen; Papst und Bischof werden Hirtenbrief auf Hirtenbrief erlassen, um auch nicht eines der in den letzten Jahrzehnten verlorenen Schafe draußen in der feindlichen Umgebung des Liberalismus zurückzulassen; Domherren, Pfarrer und Kapläne werden im Chorus, treu der Weisung Roms folgend, auf allen Kanzeln der Metropolitan-, Stadt- und Dorfkirchen den Kampf gegen die geistige Freiheit des Individuums und die Wissenschaft beginnen. *) Und die Antisemiten, die im Großen und Ganzen keineswegs der Kirche und deren Vertretern hold sind, werden verdutzt dastehen und zu spät zur Erkenntnis gelangen, dass sie nur den „Dienern Roms“ die Kastanien aus dem Feuer geholt haben.
*) Wie sehr den „Dienern Roms“ bereits der Kamm geschwollen ist, mag aus der sofort mitzuteilenden Zuschrift ersehen werden, welche der Linzer Bischof, Franz Josef Rudigier, vor kurzer Zeit an einen berufseifrigen, staatlich angestellten Lehrer in Oberösterreich zu erlassen sich herausnahm. Die für die gegenwärtige reaktionäre Strömung sehr charakteristische Zuschrift, die uns ein helles Licht darüber anzündet, wie es bei uns aussähe, wenn die Herren Bischöfe wieder die Übermacht im Staate erlangten, lautet wörtlich wie folgt:
An Herrn . . . . . Lehrer an der Volksschule in Leonfelden!
Sie sind angeklagt, dass Sie Ihr Lehramt zur Gefährdung des katholischen Glaubens bei den Schulkindern missbrauchen. Die Anklage war mit Gründen belegt, deren Gewicht nicht verkannt werden kann. Nachdem der k. k. Landes-Schulrat, der vom bischöflichen Ordinariate bereits am 8. Mai d. J., Z. 100/Sch., dieserhalb zum Einschreiten gegen Sie ersucht wurde, bisher lediglich nichts erwidert hat, bleibt mir nichts Anderes übrig, als dass ich, im Hinblick auf meine Pflicht, die „gute Hinterlage“ bei meiner Herde, zumal bei dem edelsten Teile derselben, den Kindern, den besonderen Lieblingen Jesu Christi, des „Einen Lehrers“ zu bewahren, Sie in Untersuchung ziehe und eventuell das kirchliche Strafverfahren dann gegen Sie einleite, wenn der k. k. Landes-Schulrat auch in der nächsten Zukunft nichts gegen Ihr Vorgehen verfügt.
Kraft meiner bischöflichen Amtsgewalt über alle katholischen Christen der Diözese fordere ich Sie daher auf, am 12. d., Abends, im Pfarrhofe zu Leonfelden sich zur Vernehmung mir vorzustellen. Ich wünsche aufrichtigst, dass sie mich durch eine Erklärung, die eines katholischen Mannes und Lehrers würdig ist, der peinlichen Notwendigkeit entheben, eine Strafe gegen Sie zu verhängen,
Lins, am 6. September. Franz Josef, Bischof.
„Die Judenfrage ist gelöst“, sagt Robert Hamerling mit vollem Recht, „endgültig gelöst vom Standpunkte des modernen Völker-, Bürger- und Menschenrechtes. Die moderne Gesellschaft, die moderne Zivilisation, hat sich für volle politische und soziale Gleichstellung der Rassen in Europa entschieden: jede Art von Proskribierung, von Verfolgung, von Rechtsverkürzung einer solchen ist im modernen Staate undenkbar. Ein Rütteln an dieser Tatsache kann nur zu Ausschreitungen führen, denen der Staat doch immer wieder entgegentreten muss. Gäbe es wirklich ein Parlament, das eine bürgerliche und soziale Rechts Verkürzung der Juden dekretierte, so hieße das eine unterdrückte Rasse schaffen, damit die nächste Revolution wieder eine zu befreien finde. So und nicht anders verhält es sich in der Tat.
Denn mögen doch einmal die Antisemiten Rückschau hallen über die faktischen Erfolge ihrer bisherigen mehrjährigen Tätigkeit. So viel im Allgemeinen bekannt ist, fand sich bis nun kein österreichischer oder deutscher Jude veranlasst, der allerdings etwas stürmischen Einladung der Antisemiten Folge zu leisten und nach Palästina auszuwandern; weder Deutschland noch Österreich haben bis auf den heutigen Tag einen jüdischen Staatsbeamten wegen seiner Stammesangehörigkeit seines Amtes enthoben — die hie und da noch vorkommende Zurücksetzung jüdischer Kandidaten hinter gleichwertigen Kandidaten christlicher Konfession ist mehr auf erbgesessenen klerikalen, als auf antisemitischen Einfluss zurückzuführen; die Herren Ludwig Löwe und Bamberger bilden noch immer Zierden des deutschen Parlaments, und selbst Fürst Bismarck konnte es nicht verhindern, dass die Vereinigten Staaten von Nordamerika dem toten Juden Lasker fürstliche Ehren erwiesen; Strassmann bekleidet noch immer, trotz des „Hofderwisches“ Stöcker in der Metropole Deutschlands das Ehrenamt eines Stadtverordneten-Vorstehers; die Tisza-Eszlaerer Angeklagten wurden, trotzdem die Antisemiten aus aller Herren Ländern alle Hebel in Bewegung setzten, in sämtlichen Instanzen freigesprochen; die wenigen Spiritus- und Branntweinfässer aber, die statt in die stets durstigen Kehlen des russischen und ungarischen Pöbels auf die Straßen flossen; die Fensterscheiben, die einigen Juden eingeschlagen wurden, schadeten wahrlich dem Judentum und den „reichen“ Juden sehr wenig: Diese Akte stellten nicht die Juden, sondern lediglich die Anstifter jener Exzesse vor aller Welt bloß.
Eines nur hat die Antisemitenbewegung bewirkt, was sie gewiss nicht beabsichtigte: die Stärkung der Solidarität unter den Juden. „Die Annäherung“, sagt darum Alfred Meissner sehr richtig, „war schon auf dem besten Wege. Eine rückläufige Strömung hat seit einigen Jahren wieder viel verdorben. Das Judentum, das eine hoffnungsvolle Reformierung eingeschlagen halte, hat sich wieder fester zusammengeschlossen. Es ist dies jedoch nur zu natürlich, wenn man eben alle Juden für ein Individuum aus ihrer Mitte verantwortlich macht.
Der Antisemitismus für sich allein, d. h. weder in Verbindung mit der Reaktion, noch in einer solchen mit der Sozialdemokratie, ist somit in seinen Folgen unter den jetzigen sozialen und politischen Verhältnissen für die Juden von keiner großen Gefahr begleitet. Die Sozialdemokratie aber will — wie die Vertreter derselben es so oft und so feierlich ausgesprochen haben — von dem Antisemitismus nichts wissen. Andererseits will, wie wir schon bemerkt haben, der Antisemitismus als solcher mit der Reaktion nichts gemein haben. Und es ist dies sehr begreiflich: Denn die Partei der Antisemiten setzt sich nicht zum geringsten Teile aus Gewerbetreibenden, die sich durch die angeblich vorzüglich durch die Juden vertretene Großindustrie in ihrer Existenz bedroht fühlen — als ob, wie ein bloßer Blick nach den großen Fabrikstädten leicht lehren könnte, nicht neun Zehntel der Fabrikherren der christlichen Konfession angehörten — und den Amtskandidaten zusammen, die sich durch die oft geistig überlegenen Kandidaten jüdischer Konfession gefährdet fühlen. Aber gerade diese Elemente, welche ja die Intelligenz der Bevölkerung bilden, stehen bekanntlich auf einem dem kirchlichen entgegengesetzten Standpunkte.
Unsere Aufgabe kann nun aber, wie wohl aus den vorausgegangenen Erörterungen ersichtlich sein dürfte, nur darin bestehen, eben jene intelligenten Kreise der Bevölkerung, welche Kraft ihrer höheren Bildung Vernunft gründen noch zugänglich sind, durch wissenschaftliche und unparteiische Darstellung der Verhältnisse darüber aufzuklären, dass sie auf einem Irrwege sich befinden, der sie notwendig an einen tiefen Abgrund führen muss, vor dem sie dann selbst schreckerfüllt ihr Auge abwenden werden.
Die geistigen Führer des Judentums haben es seitdem Augenblicke, wo „Hofderwisch“ Stöcker an der Spree das Banner des Antisemitismus entrollt hatte, gewiss nicht an gutem Willen und redlicher Mühe fehlen lassen — Zeuge dessen mag die recht beträchtliche Literatur sein, die durch den Antisemitismus auf unserer Seite hervorgerufen wurde — um auf dem Wege wissenschaftlicher Darlegung die gegen das Judentum und dessen Bekenner erhobenen ungerechten Vorwürfe zu entkräften. Doch blieb die Wirkung all' dieser Plaidoyers — wie leicht begreiflich, in den meisten Fällen eine mehr oder minder akademische: Die Gegner mussten natürlich in dem Anwalte zugleich die Partei selbst erblicken.
Einen großen und wohltuenden Eindruck riefen dagegen die Stimmen hervor, die aus dem Lager der Nicht-Juden zu Gunsten der Angegriffenen sich erhoben. Ich erinnere nur an das großartige Protest-Meeting der Lords und Kirchenfürsten Großbritanniens zur Zeit der russischen Judenverfolgung, an die Verteidigungsschriften eines Theodor Mommsen, Schleiden, Döllinger, Delitzsch und anderer hervorragender christlicher Männer.*)
*) So konnte ja auch das im Jahre des Heils 1882 aus dem tiefen Abgrunde des Mittelalters hervorgeholte törichte Ammenmärchen von dem Gebrauche des Christenblutes seitens der Juden zu rituellen Zwecken erst durch öffentliche Erklärungen hervorragender christlicher Gelehrten und Theologen zum Stillschweigen gebracht werden. Vgl. die von Emanuel Baumgarten herausgegebene vortreffliche Schrift: „Die Blutbeschuldigung gegen die Juden. Von christlicher Seite beurteilt“. (Wien Verlag von Alfred Holder 2. Aufl. 1883.) Wir hätten diese Schrift nicht erwähnt, wenn es nicht zur Schande unseres Jahrhunderts noch heute Leute gäbe, die, ohne dass sie seihst daran glaubten, jenes Gespenst wieder für einige Zeit an die Tageshelle zitieren wollten. Für Solche aber, die noch immer daran glauben, dass das jüdische Ritualgesetz den Juden auftrage, Mörder an ihren Mitbürgern zu werden, empfehlen wir obige Schrift und das von demselben Autor herausgegebene Werk: „Carolus Fischer über den Talmud der Hebräer.“ (Wien, ibid. 1833.) Es ist wahrhaft traurig, wenn man sich im Jahre 1884 noch ernsthaft mit solchen Dingen beschäftigen muss.
Von diesem Gesichtspunkte geleitet, fasste ich den Entschluss, aus dem Lager der Nicht-Juden die Besten unserer Zeit auf dem Gebiete der Poesie und Literatur, der Philosophie, Nationalökonomie und anderer Wissenschaften aufzurufen, damit sie durch ihr schwerwiegendes Votum das Judentum gegen die gehässigen, falschen Anschuldigungen vor aller Welt verteidigen mochten. Doch es war mir — ich bekenne es eitlen — in erster Linie nicht darum zu tun, durch meine Schrift eine Apologie des Judentums zu schaffen, sondern mein Streben ging vor Allem dahin, in die große und schwierige soziale Frage, in — die Lebensfrage der modernen Zivilisation — wie Paul Heyse die Judenfrage in einem Schreiben an mich sehr treffend nennt — nach meinen Kräften Licht zu bringen. „Es ist Zeit“, schrieb mir Martin Greif, als ich ihm von meinem Vorhaben Mitteilung machte, dass Philosophen und Denker sich über eine so ernste Materie vernehmen lassen!“ Und in der Tat scheint es höchste Zeit zu sein, dass die Diskussion über jene ernste Frage aus den Händen der Halb- und Ungebildeten in die von Männern gelegt werde, deren reiche Lebenserfahrung und hervorragende Stellung in dem Gebiete der Wissenschaft und Literatur sie vollauf dazu berechtigt, in einer in das gesamte soziale Leben so tief eingreifenden Frage das letzte Wort zu sprechen. Nicht so sehr als Jude also (im religiösen Sinne des Wortes), sondern vielmehr als begeisterter Verehrer der Freiheit des Geistes und der Humanität wollte ich mein Scherflein dazu beitragen, die „Diener Roms“ in ihrem ruchlosen Versuche aufzuhalten, das Volk wieder am römischen Gängelbande zu führen und Europa wieder ins Mittelalter zurückzuflossen. Denn vae victis! Wehe uns Allen, den Christen und Juden, wehe der Kultur und dein Fortschritte, wenn die schwarze Kutte wieder zu ihrem allen Ansehen gelangt! Die Prinzipien der Kirche sind heute dieselben wie vor tausend Jahren. Besäße Rom heute die physische Macht dazu, die Männer der Wissenschaft, die sich unterfingen, Lehren auszusprechen, die den Vorteilen der Kirche zuwiderliefen, würden heute ebenso wie Galilei und so viele Hunderte anderer Märtyrer der Wissenschaft in härenem Gewände in den unterirdischen Gemächern vor den Inquisitoren bei Todesstrafe wider ihre innerste Überzeugung Widerruf leisten müssen.*) Leo XIII. denkt nicht um ein Haar anders, als alle seine Vorgänger auf dem Stuhle Petri über den angeblichen Beruf der Kirche.**) Die Folterwerkzeuge sind für diese nur auf die Seite gestellt, nicht für immer der Vergessenheit übergeben. Die Jesuiten lauern nur auf den Augenblick, wo die sozialen und politischen Weltverhältnisse ihnen wieder die Macht in die Hände spielen werden. Dann würden sie, wie wir gegenwärtig an einem deutlichen Beispiele in Belgien sehen können, wo die Klerikalen — hoffentlich jedoch nur für eine kurze Zeit — das Ruder der Regierung ergriffen haben, die Schulen sperren und mit ihren ruchlosen Händen die so schwer erworbenen Errungenschaften des Fortschrittes und der Aufklärung mit einem Schlage zunichte machen. Auf der Erde würde wieder „Öde und Finsternis“ herrschen und der Geist Roms würde seine schwarzen Fittige über die Welt breiten.
*) Ich bedauere Raummangels wegen das äußerst interessante Urteil der Inquisition gegen Galilei und dessen ihm diktierte Abschwörungsformel hier nicht zum Abdrucke bringen zu können. Dieselben sind in der auch sonst äußerst interessanten Schrift Frohschammers „Christentum und Naturwissenschaft“, p. 43 II. abgedruckt.
**) Vgl. darüber das geistvolle Werk des genannten Frohschammer: „Die religiösen und kirchenpolitischen Fragen der Gegenwart.“ (1875), ferner das in diesen Tagen (bei Karl Konegen, Wien 1884) erschienene inhaltsreiche und äußerst interessante Buch des berühmten Orientalisten und ehemaligen österreichischen Handelsministers, Alfred Frh. v. Kremer-Aenrode (p. 173 f.), dem man doch gewiss nicht faktiöse Opposition gegen das Papsttum wird vorwerfen können.
*) „Sollen die Juden Christen werden?“ 2. Aufl. 1884.
Wilden Pöbelmassen gegenüber, welche, mit Steinen und Sensen bewaffnet, johlend gegen die Häuser der Juden sich heranwälzen, sind wir, als die numerisch Schwächeren, ohnmächtig; der Staat muss uns, wie wir es bei den Judenverfolgungen in Russland und den rohen antisemitischen Exzessen in einigen Teilen Ungarns und Deutschlands sahen, wie zur Zeit einer Revolution, mit bewaffneter Macht zu Hilfe kommen. Und der Antisemitismus ist — darüber mögen sich die Hüter der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung keiner Täuschung hingeben — nichts anderes, als der Beginn der großen sozialen Revolution. Denn wie Ludwig Foglar sehr treffend bemerkt, „segeln unter der Fahne des Antisemitismus die Finsterlinge, Denkfaulen und Abenteurer aller Sorten. Aber ehe sie dessen sich versehen, kann das Wetter umschlagen, die beschworenen Geister wollen sich nicht bannen lassen und dann kann die Losung auch lauten: Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ Und ist es in der Tat nicht ein so recht revolutionärer Zug, die blinden Volksmassen ins Feuer zu schicken, während die intelligenten Urheber des Kampfes sich auf einen sicheren Ort zurückziehen „Niederträchtig freilich ist die Rolle“, sagt Karl Braun - Wiesbaden mit Recht, „welche jene vorsichtigen und heuchlerischen Hetzer spielen, die der strafgerichtlichen Verantwortung aus dem Wege zu gehen wissen, aber gerade deshalb um so verdammenswert her sind und die moralische Verantwortung für alle von den Irregeleiteten verübten Verbrechen nicht von sich abzuwälzen vermögen.“ Doch jene gewissenlosen Volksaufwiegler, die meist bezahlte Diener der Reaktion und des Jesuitismus sind, wollen und können wir nicht zur Vernunft bringen. Denn vor dem Glänze des Goldes erbleichen bei charakterlosen Individuen alle Vernunftgründe. Und die Jesuiten haben während ihrer Jahrhunderte dauernden Macht des Goldes eine Menge zusammengescharrt, die sie nun, den veränderten Verhältnissen der Zeit Rechnung tragend, in dieser Weise für ihre Zwecke zu verwerten bestrebt sind. Denn nach meiner Überzeugung ist es unzweifelhaft, dass es nicht lange mehr währen wird, wo der Antisemitismus in seiner gegenwärtigen Gestalt von der Bildfläche verschwinden wird. „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan; der Mohr kann gehen“ wird es in nicht ferner Zeit heißen und mit dem Stichworte „Reaktion“ wird ein schwarzer Ritter, mit ehernen, mittelalterlichen Waffen bekleidet, auf die Bühne der Gegenwart treten. Eingeschläfert durch den sozialen und politischen Frieden der 60er und 70er Jahre wähnten wir nämlich den eisernen Ritter längst bei den Toten: Der Gedanke war so schon! So mancher deutsche Geschichtsforscher mag schon das Material zu einer „Geschichte der Reaktion in Mitteleuropa“ gesammelt haben. Lege deinen Kiel wieder nieder, törichter Idealist ! Denn noch immer umflattern die schwarzen Raben den Kyffhäuser, und der lichte Genius der Menschheit, der tief unten im Berge nur von Zeit zu Zeit fröhlich lächelnd aufblickt, um die unter ihrem Joche schwer seufzende Menschheit wenigstens für Augenblicke zu erheitern, droht wieder einzuschlummern. Doch verzagen wir nicht; trösten wir uns mit der erhebenden Hoffnung, dass denn doch einmal der Tag kommen müsse, wo Ahriman von Ormuzd niedergeworfen, in die Unterwelt zu den Toten wandern werde.
Jawohl; man kann es nicht oft genug wiederholen: Hinter den Antisemiten stehen die Schwarzrocke mit ihrem Gefolge, den bürgerlichen Reaktionären und den adeligen Feudalen. Haben einmal Jene durch ihr Treiben den Samen der Unzufriedenheit unter das Volk gestreut, dann kommen die „Diener Roms“ hervor, waschen ihre Hände in Unschuld und predigen dem „gottverlassenen“ Volke Umkehr in den „Schoß der Kirche“, die doch allein im Stande sei, Kummer und Sorge zu verscheuchen und die Wunden des Herzens zu heilen. Und das arme Volk wird wieder seinen Nacken demutsvoll unter das „sanfte Joch“ Roms beugen; Papst und Bischof werden Hirtenbrief auf Hirtenbrief erlassen, um auch nicht eines der in den letzten Jahrzehnten verlorenen Schafe draußen in der feindlichen Umgebung des Liberalismus zurückzulassen; Domherren, Pfarrer und Kapläne werden im Chorus, treu der Weisung Roms folgend, auf allen Kanzeln der Metropolitan-, Stadt- und Dorfkirchen den Kampf gegen die geistige Freiheit des Individuums und die Wissenschaft beginnen. *) Und die Antisemiten, die im Großen und Ganzen keineswegs der Kirche und deren Vertretern hold sind, werden verdutzt dastehen und zu spät zur Erkenntnis gelangen, dass sie nur den „Dienern Roms“ die Kastanien aus dem Feuer geholt haben.
*) Wie sehr den „Dienern Roms“ bereits der Kamm geschwollen ist, mag aus der sofort mitzuteilenden Zuschrift ersehen werden, welche der Linzer Bischof, Franz Josef Rudigier, vor kurzer Zeit an einen berufseifrigen, staatlich angestellten Lehrer in Oberösterreich zu erlassen sich herausnahm. Die für die gegenwärtige reaktionäre Strömung sehr charakteristische Zuschrift, die uns ein helles Licht darüber anzündet, wie es bei uns aussähe, wenn die Herren Bischöfe wieder die Übermacht im Staate erlangten, lautet wörtlich wie folgt:
An Herrn . . . . . Lehrer an der Volksschule in Leonfelden!
Sie sind angeklagt, dass Sie Ihr Lehramt zur Gefährdung des katholischen Glaubens bei den Schulkindern missbrauchen. Die Anklage war mit Gründen belegt, deren Gewicht nicht verkannt werden kann. Nachdem der k. k. Landes-Schulrat, der vom bischöflichen Ordinariate bereits am 8. Mai d. J., Z. 100/Sch., dieserhalb zum Einschreiten gegen Sie ersucht wurde, bisher lediglich nichts erwidert hat, bleibt mir nichts Anderes übrig, als dass ich, im Hinblick auf meine Pflicht, die „gute Hinterlage“ bei meiner Herde, zumal bei dem edelsten Teile derselben, den Kindern, den besonderen Lieblingen Jesu Christi, des „Einen Lehrers“ zu bewahren, Sie in Untersuchung ziehe und eventuell das kirchliche Strafverfahren dann gegen Sie einleite, wenn der k. k. Landes-Schulrat auch in der nächsten Zukunft nichts gegen Ihr Vorgehen verfügt.
Kraft meiner bischöflichen Amtsgewalt über alle katholischen Christen der Diözese fordere ich Sie daher auf, am 12. d., Abends, im Pfarrhofe zu Leonfelden sich zur Vernehmung mir vorzustellen. Ich wünsche aufrichtigst, dass sie mich durch eine Erklärung, die eines katholischen Mannes und Lehrers würdig ist, der peinlichen Notwendigkeit entheben, eine Strafe gegen Sie zu verhängen,
Lins, am 6. September. Franz Josef, Bischof.
„Die Judenfrage ist gelöst“, sagt Robert Hamerling mit vollem Recht, „endgültig gelöst vom Standpunkte des modernen Völker-, Bürger- und Menschenrechtes. Die moderne Gesellschaft, die moderne Zivilisation, hat sich für volle politische und soziale Gleichstellung der Rassen in Europa entschieden: jede Art von Proskribierung, von Verfolgung, von Rechtsverkürzung einer solchen ist im modernen Staate undenkbar. Ein Rütteln an dieser Tatsache kann nur zu Ausschreitungen führen, denen der Staat doch immer wieder entgegentreten muss. Gäbe es wirklich ein Parlament, das eine bürgerliche und soziale Rechts Verkürzung der Juden dekretierte, so hieße das eine unterdrückte Rasse schaffen, damit die nächste Revolution wieder eine zu befreien finde. So und nicht anders verhält es sich in der Tat.
Denn mögen doch einmal die Antisemiten Rückschau hallen über die faktischen Erfolge ihrer bisherigen mehrjährigen Tätigkeit. So viel im Allgemeinen bekannt ist, fand sich bis nun kein österreichischer oder deutscher Jude veranlasst, der allerdings etwas stürmischen Einladung der Antisemiten Folge zu leisten und nach Palästina auszuwandern; weder Deutschland noch Österreich haben bis auf den heutigen Tag einen jüdischen Staatsbeamten wegen seiner Stammesangehörigkeit seines Amtes enthoben — die hie und da noch vorkommende Zurücksetzung jüdischer Kandidaten hinter gleichwertigen Kandidaten christlicher Konfession ist mehr auf erbgesessenen klerikalen, als auf antisemitischen Einfluss zurückzuführen; die Herren Ludwig Löwe und Bamberger bilden noch immer Zierden des deutschen Parlaments, und selbst Fürst Bismarck konnte es nicht verhindern, dass die Vereinigten Staaten von Nordamerika dem toten Juden Lasker fürstliche Ehren erwiesen; Strassmann bekleidet noch immer, trotz des „Hofderwisches“ Stöcker in der Metropole Deutschlands das Ehrenamt eines Stadtverordneten-Vorstehers; die Tisza-Eszlaerer Angeklagten wurden, trotzdem die Antisemiten aus aller Herren Ländern alle Hebel in Bewegung setzten, in sämtlichen Instanzen freigesprochen; die wenigen Spiritus- und Branntweinfässer aber, die statt in die stets durstigen Kehlen des russischen und ungarischen Pöbels auf die Straßen flossen; die Fensterscheiben, die einigen Juden eingeschlagen wurden, schadeten wahrlich dem Judentum und den „reichen“ Juden sehr wenig: Diese Akte stellten nicht die Juden, sondern lediglich die Anstifter jener Exzesse vor aller Welt bloß.
Eines nur hat die Antisemitenbewegung bewirkt, was sie gewiss nicht beabsichtigte: die Stärkung der Solidarität unter den Juden. „Die Annäherung“, sagt darum Alfred Meissner sehr richtig, „war schon auf dem besten Wege. Eine rückläufige Strömung hat seit einigen Jahren wieder viel verdorben. Das Judentum, das eine hoffnungsvolle Reformierung eingeschlagen halte, hat sich wieder fester zusammengeschlossen. Es ist dies jedoch nur zu natürlich, wenn man eben alle Juden für ein Individuum aus ihrer Mitte verantwortlich macht.
Der Antisemitismus für sich allein, d. h. weder in Verbindung mit der Reaktion, noch in einer solchen mit der Sozialdemokratie, ist somit in seinen Folgen unter den jetzigen sozialen und politischen Verhältnissen für die Juden von keiner großen Gefahr begleitet. Die Sozialdemokratie aber will — wie die Vertreter derselben es so oft und so feierlich ausgesprochen haben — von dem Antisemitismus nichts wissen. Andererseits will, wie wir schon bemerkt haben, der Antisemitismus als solcher mit der Reaktion nichts gemein haben. Und es ist dies sehr begreiflich: Denn die Partei der Antisemiten setzt sich nicht zum geringsten Teile aus Gewerbetreibenden, die sich durch die angeblich vorzüglich durch die Juden vertretene Großindustrie in ihrer Existenz bedroht fühlen — als ob, wie ein bloßer Blick nach den großen Fabrikstädten leicht lehren könnte, nicht neun Zehntel der Fabrikherren der christlichen Konfession angehörten — und den Amtskandidaten zusammen, die sich durch die oft geistig überlegenen Kandidaten jüdischer Konfession gefährdet fühlen. Aber gerade diese Elemente, welche ja die Intelligenz der Bevölkerung bilden, stehen bekanntlich auf einem dem kirchlichen entgegengesetzten Standpunkte.
Unsere Aufgabe kann nun aber, wie wohl aus den vorausgegangenen Erörterungen ersichtlich sein dürfte, nur darin bestehen, eben jene intelligenten Kreise der Bevölkerung, welche Kraft ihrer höheren Bildung Vernunft gründen noch zugänglich sind, durch wissenschaftliche und unparteiische Darstellung der Verhältnisse darüber aufzuklären, dass sie auf einem Irrwege sich befinden, der sie notwendig an einen tiefen Abgrund führen muss, vor dem sie dann selbst schreckerfüllt ihr Auge abwenden werden.
Die geistigen Führer des Judentums haben es seitdem Augenblicke, wo „Hofderwisch“ Stöcker an der Spree das Banner des Antisemitismus entrollt hatte, gewiss nicht an gutem Willen und redlicher Mühe fehlen lassen — Zeuge dessen mag die recht beträchtliche Literatur sein, die durch den Antisemitismus auf unserer Seite hervorgerufen wurde — um auf dem Wege wissenschaftlicher Darlegung die gegen das Judentum und dessen Bekenner erhobenen ungerechten Vorwürfe zu entkräften. Doch blieb die Wirkung all' dieser Plaidoyers — wie leicht begreiflich, in den meisten Fällen eine mehr oder minder akademische: Die Gegner mussten natürlich in dem Anwalte zugleich die Partei selbst erblicken.
Einen großen und wohltuenden Eindruck riefen dagegen die Stimmen hervor, die aus dem Lager der Nicht-Juden zu Gunsten der Angegriffenen sich erhoben. Ich erinnere nur an das großartige Protest-Meeting der Lords und Kirchenfürsten Großbritanniens zur Zeit der russischen Judenverfolgung, an die Verteidigungsschriften eines Theodor Mommsen, Schleiden, Döllinger, Delitzsch und anderer hervorragender christlicher Männer.*)
*) So konnte ja auch das im Jahre des Heils 1882 aus dem tiefen Abgrunde des Mittelalters hervorgeholte törichte Ammenmärchen von dem Gebrauche des Christenblutes seitens der Juden zu rituellen Zwecken erst durch öffentliche Erklärungen hervorragender christlicher Gelehrten und Theologen zum Stillschweigen gebracht werden. Vgl. die von Emanuel Baumgarten herausgegebene vortreffliche Schrift: „Die Blutbeschuldigung gegen die Juden. Von christlicher Seite beurteilt“. (Wien Verlag von Alfred Holder 2. Aufl. 1883.) Wir hätten diese Schrift nicht erwähnt, wenn es nicht zur Schande unseres Jahrhunderts noch heute Leute gäbe, die, ohne dass sie seihst daran glaubten, jenes Gespenst wieder für einige Zeit an die Tageshelle zitieren wollten. Für Solche aber, die noch immer daran glauben, dass das jüdische Ritualgesetz den Juden auftrage, Mörder an ihren Mitbürgern zu werden, empfehlen wir obige Schrift und das von demselben Autor herausgegebene Werk: „Carolus Fischer über den Talmud der Hebräer.“ (Wien, ibid. 1833.) Es ist wahrhaft traurig, wenn man sich im Jahre 1884 noch ernsthaft mit solchen Dingen beschäftigen muss.
Von diesem Gesichtspunkte geleitet, fasste ich den Entschluss, aus dem Lager der Nicht-Juden die Besten unserer Zeit auf dem Gebiete der Poesie und Literatur, der Philosophie, Nationalökonomie und anderer Wissenschaften aufzurufen, damit sie durch ihr schwerwiegendes Votum das Judentum gegen die gehässigen, falschen Anschuldigungen vor aller Welt verteidigen mochten. Doch es war mir — ich bekenne es eitlen — in erster Linie nicht darum zu tun, durch meine Schrift eine Apologie des Judentums zu schaffen, sondern mein Streben ging vor Allem dahin, in die große und schwierige soziale Frage, in — die Lebensfrage der modernen Zivilisation — wie Paul Heyse die Judenfrage in einem Schreiben an mich sehr treffend nennt — nach meinen Kräften Licht zu bringen. „Es ist Zeit“, schrieb mir Martin Greif, als ich ihm von meinem Vorhaben Mitteilung machte, dass Philosophen und Denker sich über eine so ernste Materie vernehmen lassen!“ Und in der Tat scheint es höchste Zeit zu sein, dass die Diskussion über jene ernste Frage aus den Händen der Halb- und Ungebildeten in die von Männern gelegt werde, deren reiche Lebenserfahrung und hervorragende Stellung in dem Gebiete der Wissenschaft und Literatur sie vollauf dazu berechtigt, in einer in das gesamte soziale Leben so tief eingreifenden Frage das letzte Wort zu sprechen. Nicht so sehr als Jude also (im religiösen Sinne des Wortes), sondern vielmehr als begeisterter Verehrer der Freiheit des Geistes und der Humanität wollte ich mein Scherflein dazu beitragen, die „Diener Roms“ in ihrem ruchlosen Versuche aufzuhalten, das Volk wieder am römischen Gängelbande zu führen und Europa wieder ins Mittelalter zurückzuflossen. Denn vae victis! Wehe uns Allen, den Christen und Juden, wehe der Kultur und dein Fortschritte, wenn die schwarze Kutte wieder zu ihrem allen Ansehen gelangt! Die Prinzipien der Kirche sind heute dieselben wie vor tausend Jahren. Besäße Rom heute die physische Macht dazu, die Männer der Wissenschaft, die sich unterfingen, Lehren auszusprechen, die den Vorteilen der Kirche zuwiderliefen, würden heute ebenso wie Galilei und so viele Hunderte anderer Märtyrer der Wissenschaft in härenem Gewände in den unterirdischen Gemächern vor den Inquisitoren bei Todesstrafe wider ihre innerste Überzeugung Widerruf leisten müssen.*) Leo XIII. denkt nicht um ein Haar anders, als alle seine Vorgänger auf dem Stuhle Petri über den angeblichen Beruf der Kirche.**) Die Folterwerkzeuge sind für diese nur auf die Seite gestellt, nicht für immer der Vergessenheit übergeben. Die Jesuiten lauern nur auf den Augenblick, wo die sozialen und politischen Weltverhältnisse ihnen wieder die Macht in die Hände spielen werden. Dann würden sie, wie wir gegenwärtig an einem deutlichen Beispiele in Belgien sehen können, wo die Klerikalen — hoffentlich jedoch nur für eine kurze Zeit — das Ruder der Regierung ergriffen haben, die Schulen sperren und mit ihren ruchlosen Händen die so schwer erworbenen Errungenschaften des Fortschrittes und der Aufklärung mit einem Schlage zunichte machen. Auf der Erde würde wieder „Öde und Finsternis“ herrschen und der Geist Roms würde seine schwarzen Fittige über die Welt breiten.
*) Ich bedauere Raummangels wegen das äußerst interessante Urteil der Inquisition gegen Galilei und dessen ihm diktierte Abschwörungsformel hier nicht zum Abdrucke bringen zu können. Dieselben sind in der auch sonst äußerst interessanten Schrift Frohschammers „Christentum und Naturwissenschaft“, p. 43 II. abgedruckt.
**) Vgl. darüber das geistvolle Werk des genannten Frohschammer: „Die religiösen und kirchenpolitischen Fragen der Gegenwart.“ (1875), ferner das in diesen Tagen (bei Karl Konegen, Wien 1884) erschienene inhaltsreiche und äußerst interessante Buch des berühmten Orientalisten und ehemaligen österreichischen Handelsministers, Alfred Frh. v. Kremer-Aenrode (p. 173 f.), dem man doch gewiss nicht faktiöse Opposition gegen das Papsttum wird vorwerfen können.