Wien , 3. November 1814.

Ich habe heute früh Ihren Brief vom 18. Oktober erhalten, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie mich Ihr Andenken gerührt und gefreut hat. Ich hatte in unserm Zusammentreffen in Pyrmont immer eine wunderbare Fügung des Schicksals erkannt, denn Sie irren sehr, wenn Sie glauben, daß Sie in einer flüchtigen Jugenderscheinung an mir vorüber gegangen sind. Ich dachte sehr oft an Sie, erkundigte mich auch, aber immer fruchtlos, nach Ihnen, glaubte Sie verheiratet, dachte Sie mir mit Kindern und in einem Kreise, wo Sie mich längst vergessen hätten, und bewahrte nur in mir, was mir jene Jugendtage gelassen hatten. Jetzt erfuhr ich, daß Ihr Leben viel weniger einfach gewesen ist, als ich es mir dachte. Hätten Sie mir damals geschrieben, wie Sie am meisten litten, vielleicht hätten Ihnen meine Worte wohltun können. Glauben Sie mir, liebe Charlotte, Sie werden mir diese vertrauliche Benennung nicht übel deuten, da ja nur Sie und ich unsere Briefe lesen , der Mensch traut nie dem Menschen genug. So erfahre ich erst jetzt durch Sie, daß ich damals einen tieferen Eindruck auf Sie machte, als ich mir je eingebildet hätte. Die Zeilen, die man nach so langer Zeit von sich selbst wiedersieht, sprechen einen wie aus einer anderen Welt an. Ich habe das Glück, denn es ist wirklich nur ein Glück, daß ich mich keiner Empfindung schämen darf, die ich in jener Jugend hegte, und glauben Sie es mir, ich bin noch jetzt gleich einfach wie damals. Jedes Wort Ihres Briefes hat mich auf das Tiefste ergriffen, ich versetze mich ganz in Ihre Lage, und ich danke Ihnen recht aus innigem Herzen, daß Sie den Glauben an mich nicht verloren, und daß Sie mich wert hielten, sich mir, wie Sie es tun, zu erschließen. Schreiben Sie mir denn, wenn Sie es der Mühe wert halten es ferner zu tun, ohne Umschweife und mit dem Vertrauen, auf das ich vielleicht ein Recht erlangt hätte, wenn ich Sie wiedergesehen hätte. Sehr Unrecht haben Sie, wenn Sie sagen, daß gewisse Eindrücke im weiblichen Gemüt tiefer und länger haften. Ich könnte Ihnen das Gegenteil aus Ihrem eigenen Briefe beweisen. Gestehen Sie immer, es soll kein Vorwurf sein – 26 Jahre liegen hinter unserer kurzen Bekanntschaft, und wir sehen uns leider vermutlich nie wieder –, daß ich ziemlich aus Ihrem Gedächtnis verschwunden bin, wie ich Sie verließ. Sie haben sich wenigstens nicht an mein Versprechen erinnert, Sie wieder zu besuchen, das nicht gehalten zu haben mich oft sehr ernstlich geschmerzt hat. Ich könnte die Bank in der Allee noch bezeichnen, wo ich es machte; ich war im Begriff, zu Ihnen zu kommen, aber eine jugendliche Pedanterie, in der ich es für unmöglich hielt, eine Woche später nach Göttingen zurückzukehren, hielt mich davon ab. Es ist mir ein sicherer Beweis, daß wir einander im Leben nicht nahe kommen sollten, und das Einzige, was mir innig leid tut, ist, daß ich nicht bestimmt war, irgend dauernde Freude in Ihr Leben zu bringen. Trübe oder schmerzliche Empfindungen konnten sich, davon seien Sie sicher überzeugt, an den Umgang mit mir nicht knüpfen. Es trifft mich kein Vorwurf dieser Art. Ihr Schicksal hat mich so ergriffen, wie Sie es nach diesen Geständnissen sich denken können. Ich habe es auch auf mannigfaltige Weise heut überlegt. Ich bitte Sie aber, überlassen Sie sich für den Augenblick mir, folgen Sie blindlings meinem Rat und glauben Sie dem, der mehr Welterfahrenheit hat als Sie, und ebenso wie Sie weiß, was ein Gemüt in Ihrer Lage bedarf. Setzen Sie aber dabei alle kleinlichen Rücksichten beiseite, seien Sie wirklich vertrauend, seien Sie gut gegen mich, und erzeigen Sie mir den größten Gefallen, den Sie mir erzeigen können. Was Sie in Ihrer jetzigen Lage brauchen, Ihre Gesundheit und Ihr Herz, ist Ruhe. Die ängstliche Sorge, die große Anstrengung für Ihre Erhaltung, untergräbt beides. Sie waren, ich erinnere mich dessen noch sehr gut, gesund und stark, Sie waren es, so scheint es, später wieder geworden. Bleiben Sie ein Jahr nur ruhig und pflegen Ihre Gesundheit, so wird sie wiederkehren, trotz der Stürme, die Sie bestanden haben. Dies ist zugleich der beste Rat für Ihre übrigen Pläne. Glauben Sie mir, wer in dem Augenblick suchen muß, wo er braucht, findet schwer. Wenn man hingegen nur eine Zeit lang sorglos leben kann, finden sich die Lagen von selbst. Welcher Ihrer Pläne ausführbar sein kann, muß die Zeit erst lehren, ebenfalls was ich befördern kann. Ich halte es für Pflicht, Ihnen darüber ganz offen zu reden. O! Sie hätten sehr unrecht, es mir übel zu deuten. Die Briefe des Herzogs sind sehr gut und machen ihm Ehre, aber er kann, wie Sie aus den Briefen Ihrer Freunde sehen, vorerst nicht helfen. Diese Dinge müssen Sie also wenigstens der Zeit und dem Schicksal überlassen. Erlauben Sie mir das Verdienst, Ihnen diese Zeit zu verschaffen, gönnen Sie mir die Beruhigung zu wissen, daß Ihnen jetzt ein Jahr ungetrübt von kleinen äußeren Sorgen verstrichen ist. Ja, liebe Charlotte, ich bitte Sie inständig darum; verschmähen Sie mein Anerbieten nicht. Es wäre innerlich die falscheste Delikatesse von der Welt, und Sie können sicher sein, daß niemand je als ich und Sie darum wissen wird. Ich bin nicht reich, aber ich weiß sehr gut, was ich tue, und ich sehe aus Ihrem ganzen Brief und allen seinen Beilagen, daß Sie, was meinen Gefallen an Ihrem Leben und meine wahre Achtung für Sie vermehrt, sich an eine große Einfachheit von Bedürfnissen gewöhnt haben. Ich lege Ihnen hier eine Anweisung ein. Ich begreife, daß dies nur für Monate sein kann. Aber folgen Sie mir, schreiben Sie mir recht vertraulich, recht ordentlich, was Sie, eine Badekur eingerechnet, brauchen. Glauben Sie mir, daß ich nie mehr tue, als ich kann, geben Sie es mir zurück, wenn Ihre Lage und Ihr Schicksal sich ändert, aber begreifen Sie nur recht meinen Plan, der ganz einfach der ist, daß Sie ein Jahr vor sich haben, für das Sie nicht zu sorgen brauchen, und in dem Sie mit Freiheit und ohne Ängstlichkeit künftige Pläne bilden können. Ich fühle recht gut dasjenige, dem ich mich nach der Schilderung, die Sie mir von sich selbst machen, aussetze. Sie können alles ausschlagen, Sie können Anmaßung in mir finden, mir Vorwürfe machen. Ich muß aber doch auf meinem Vorschlag beharren, er ist der einzige Ihrer Lage angemessene. Glauben Sie ja nicht, liebe Charlotte, daß ich irgend etwas Ungeziemendes darin finde, selbst mit seiner Arbeit Verdienst zu suchen, Sie sollen ja auch nachher ganz frei sein. Nur bis Ihre Gesundheit wiederhergestellt ist, folgen Sie. Jetzt ist jede Arbeit Ihnen verderblich. Wenden Sie sich aber an andere, so glauben Sie mir, niemand antwortet Ihnen so anspruchslos, so uneigennützig; andere glauben Ihnen einen Gefallen zu tun; mir erzeigen Sie einen. – Jetzt breche ich davon ab und rede Ihnen von mir, weil Sie es wollen. Ich bin, wie man Ihnen gesagt hat, verheiratet, ich heiratete drei Jahre, nachdem ich Sie sah, und habe jetzt fünf Kinder; drei habe ich verloren. Ich heiratete bloß und nur aus innerer Neigung, und es ist vielleicht nie ein Mann in seiner Verbindung so glücklich gewesen. Nur seit den letzten zwei Jahren habe ich das Unglück, daß meine Frau kränkelt, und mich meine Geschäfte oft von ihr fern gehalten haben, wie es noch jetzt der Fall ist. Da Sie, wie Sie mir sagen, manchmal von mir hörten, so werden Sie wissen, daß ich einige Jahre hindurch Gesandter in Rom war. Ich nahm die Stelle nur des Landes wegen an, und hätte es, ohne die unglücklichen Ereignisse, nie verlassen. In diesen wurde es aber gewissermaßen zur Pflicht, zu dienen, und so bin ich nach und nach in verwickelte Verhältnisse gestoßen worden. Sie sind aber meiner Neigung wenig angemessen, und mir würde ein stilleres und einfacheres Leben mehr zusagen. Den Krieg hindurch war ich im Hauptquartier, dann in England, von da ging ich nach der Schweiz, meine Frau zu besuchen, die dort hingereist war. Jetzt bin ich hier auf dem Kongreß, und sie ist auf ihren Gütern, von denen sie nach Berlin gehen wird. Nach dem Kongreß besuche ich sie dort und gehe als Gesandter nach Paris, wohin sie mir später folgen wird. Mein ältester Sohn ist schon Offizier, ging mit 16 Jahren ins Feld, wurde verwundet, ist aber glücklich geheilt und nun wohlbehalten zurückgekommen. Außer ihm habe ich drei Mädchen und einen kleinen Jungen. Die beiden jüngsten der Mädchen sind eigentlich in Italien groß geworden und konnten keine Silbe deutsch, wie sie, die älteste im zehnten Jahre, nach Wien kamen. Ich wünschte, Sie sähen sie. Es sind zwei unendlich liebe Geschöpfe. Der kleine Junge ist erst fünf Jahre. Zwei Söhne hatte ich das Unglück in Rom zu verlieren, eine Tochter, mit der meine Frau, als sie eine Reise nach Paris machte, niederkam, ohne daß ich sie sah. So wissen Sie meine äußeren Schicksale. Von den inneren läßt sich nur reden, nicht schreiben.

Nun nehmen Sie noch einmal meinen herzlichen Dank. Ich weiß nicht, ob ich Sie je wiedersehen werde, und ich darf es kaum hoffen. Ich kann mir auch jetzt kein deutliches Bild von Ihnen machen. Allein wenn daher auch das, was ich von Ihnen in der Seele trage, eine Erscheinung der Vergangenheit ist, sogar eine, an die meine Einbildungskraft vieles, über die augenblickliche Dauer unseres Zusammenseins hinaus, legte, so glauben Sie gewiß, daß es nie eine flüchtige war und nie eine solche sein wird.


Ganz der Ihrige. H.

Die Originalbriefe und das Erinnerungsblatt schicke ich zurück.

Das Geheimnis des Glücks in der Liebe
ISBN: 978-3-939198-38-3
Preis: 9,90 €
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin