Vorbericht von Charlotte Diede.

Ein solcher Briefwechsel, der durch nichts gestört und unterbrochen wurde, ist Umgang, der gegenseitig zu näherer Kenntnis des Charakters führt. Ein Geheimnis kann er nicht sein, die ganze Welt könnte den Inhalt wissen. Aber sie waren an mich geschrieben, so war es das Heiligtum meines Lebens; so bewahrte ich schweigend und verborgen, was nur für mich geschrieben war, mich entschädigte für große Entbehrungen, mich lohnte für viele Leiden, mir erschien wie mein zugewogenes Erdenglück, das mich ganz aussöhnte mit Schicksal und Verhängnis.

Wie viel aus einem solchen, das innere Leben vertrauungsvoll berührenden Briefe ausgeschaltet werden muß, wie nicht die Hälfte bleiben kann, auch vieles durch Mitteilung entweiht werden würde, darf kaum angedeutet werden. Zugleich ist anderes wieder in dem Schönen und selbst Lobenden so charakteristisch, spricht den inneren Gemütsreichtum und die Fülle des gütigsten, gerechtesten Herzens so hinreißend aus, daß es denen nicht entzogen werden darf, die jede Erinnerung der Art gewiß heilig verehren. Daß alle diese die hier erscheinenden Briefe wie eine zwiefache Stimme aus einer unsichtbaren Welt, wie ein doppeltes Vermächtnis ansehen, ist mein Wunsch. Zuerst die teuern Hinterbliebenen des Verfassers, dann die große Zahl seiner Verehrer und Freunde, in deren Herzen gewiß nie sein Bild erlöschen wird, da ihm die Stelle darin durch Liebe und Ehrfurcht geweiht ist. Demnächst sind sie ein Vermächtnis für den engen Kreis der Freunde der Herausgeberin, welche alle Papiere sorgfältig gesammelt, bewahrt, geordnet und treu-gewissenhaft ausgewählt hat. Jeder, der das Glück hatte, dem Vollendeten näher zu stehen und den er würdigte, ihm das Innere seiner hohen Seele aufzuschließen, wird ihn in den Briefen, in dem Gange seiner Ideen und den öfteren Selbstzeichnungen wiederfinden.


Manches bedarf, nur um nicht ganz unverständlich zu sein, einer Erklärung, wozu ich mich ungern entschließe. Welche Frau, geehrt und beglückt durch Wilhelm von Humboldts Teilnahme und Freundschaft, gewürdigt vieljähriger, vertrauungsvoller Briefe und im Besitz so vieler geistreicher Blätter, könnte den Mut haben, ihre Ansichten und ihr Geschreibe neben das zu stellen, was aus seiner Feder floß! Ihn allein reden zu lassen ist geziemend und natürlich. Die Briefe selbst sind es und sie allein, worauf es ankommt, und welche Tendenz der Briefwechsel haben sollte, geht klar daraus hervor.

Über den Beginn desselben möchte einige Nachricht dem einen und andern interessant sein. Kurz und einfach will ich sie geben.

Wir lernten uns in früher Jugend, im Jahre 1788 in Pyrmont kennen, wohin Herr von Humboldt, der in Göttingen studierte, von dort kam, und wohin ich, nur wenige Jahre jünger, meinen Vater begleitete, der alljährlich ein Bad besuchte. Wir wohnten in einem Hause, waren Tischnachbarn an der Wirtstafel und lebten in Gesellschaft meines Vaters drei glückliche Jugendtage von früh bis spät als unzertrennliche Spaziergänger in Pyrmonts Alleen und reizenden Tälern. Wir hatten uns so viel zu sagen! so viele Ansichten und Meinungen mitzuteilen! so viele Ideen auszutauschen! wir wurden nicht fertig. Wie leise diese oder jene Saite angeschlagen wurde, sie fand den tiefsten Anklang.

Es war die letzte Epoche einer schönen, blüten- und hoffnungsreichen, poetischen Zeit, worin ein Teil der Jugend ideal und begeistert lebte, während der andere, wie heute, im Realismus prosaisch fortschritt. Wir gehörten beide zu dem ersten. Und es herrschte damals noch die schöne Ruhe vor dem nahen Sturm, der bald furchtbar ausbrach.

Wenn die Jugend auch den klaren Begriff der Größe noch nicht hat, so ahnt und empfindet sie doch solche. Wilhelm von Humboldts Charakter war schon im Jüngling derselbe, wie er sich später und bis an das Ende seines Lebens aussprach. Schon 1788 lebte er in hohen und klaren Ideen, schon damals war die einzig heitere Ruhe über sein ganzes Wesen ausgegossen, die im Umgang höchst wohltätig ergriff und sich jeder Unterhaltung ebenso mitteilte. Jedes Wort war überzeugend und beleuchtete hell den Gegenstand, worüber er sprach.

Herr von Humboldt reiste nach drei Tagen ab. Wir blieben länger. Mir blieb die Erinnerung von drei glücklichen Jugendtagen, die ein gewöhnliches, alltägliches langes Leben an Gehalt aufwiegen. Das Andenken derselben hat mich durch mein ganzes Leben begleitet. Mein neuer junger Freund hatte auf mich einen tiefen, nie vorher gekannten, nie in mir erloschenen Eindruck gemacht, der gesondert von andern Empfindungen, in sich geheiligt, wie ein geheimnisvoller Faden durch alle folgenden Verhängnisse meines Lebens ungesehen lies, und fest in mir verborgen blieb, den ich immer gesegnet und als eine gütige Fügung der Vorsehung angesehen habe. Es knüpften sich an diese Erinnerungen, so wenig als an die drei Tage selbst, weder Wünsche, noch Hoffnungen, noch Unruhe. Ich fühlte mich unendlich bereichert im Innern und meine Seele war mehr noch als vorher aufs Ernste gerichtet. Manches, was wir besprochen hatten, beschäftigte mich noch lange, und »das Gefühl fürs Wahre, Gute und Schöne« wurde klarer und stärker in mir.

Wir sahen uns nicht wieder, auch hegte ich nicht die leiseste Hoffnung des Wiedersehens. Ich schloß die vorübergegangene schöne Erscheinung in das Allerheiligste und gab es nie heraus, sprach nie darüber und sicherte es so vor Entweihung durch fremde Berührung.

Ein Stammbuchblättchen, ein in jener Zeit mehr als jetzt gebräuchliches Erinnerungszeichen, blieb mir ein sehr teures Andenken durch mein ganzes Leben. Ich ahnte nicht, wie bedeutend es noch werden würde, als ein Dokument, das hierher gehört, da es beides charakterisiert, den jugendlichen Humboldt und unser jugendliches Verhältnis.

Bald nach dieser für mich in den späteren Folgen so wichtigen Bekanntschaft, im Frühjahr 1789, wurde ich verheiratet. Ich lebte in dieser kinderlosen Ehe nur fünf Jahre und trat in keine zweite.

Mich trafen ungewöhnliche und schmerzlich-verwickelte Schicksale, und durch rätselhafte, geheime, erst spät enthüllte Intriguen und Feindschaften blieb mein ganzes Leben ein Gewebe von Widerwärtigkeiten, die ich später gesegnet habe, da nichts anders sein durfte, als es war, sollte ich der segensvollen Teilnahme des edelsten Freundes teilhaftig werden.

In dieser Zeit begannen die großen Weltbegebenheiten und griffen mehr oder weniger in die Schicksale von Tausenden ein, die nichts damit zu tun hatten. Auch auf mich übten sie ihre Gewalt, indem sie mich eines Vermögens beraubten, das eben ausreichte, mir bei mäßigen Wünschen Unabhängigkeit zu sichern, wodurch mir viele Lebensbitterkeiten fern blieben, die ich später kennen lernte.

In der ereignisschweren Zeit 1806 wohnte ich als Fremde in Braunschweig. Eine Reihe von Jahren hatte ich dort unter der milden Regierung des alten, allgeliebten, verehrten Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand gelebt. Es war nach der Schlacht bei Jena, wovon man so große Erwartungen hegte, als die Besitznahme deutscher Länder und die französische Herrschaft begann. Braunschweig traf der Schlag zuerst. Wie gewaltsam die Schritte auch waren, die geschahen, man sah sie als kriegerische Maßregeln an, aber nicht als Vorspiel dessen, was folgte. Man besorgte und befürchtete keine Fremdherrschaft.

Jetzt erging eine Aufforderung, die allgemeine Last freiwillig oder gezwungen mitzutragen. An mich erging aber keine Anforderung, gern und freiwillig gab ich einen großen Teil meines Vermögens. Es war mir gerade ein Kapital ausgezahlt, das vorerst auf Wechsel stand, worüber ich gleich disponieren konnte; gefährlich schien es durchaus nicht, die Obligationen wurden von den Landständen ausgestellt und garantiert, die Gelder von ihnen empfangen. Man hielt das für sehr sicher. Mich hatten schwere Privatleiden in der Zeit getroffen, so, im Schmerz befangen, handelte ich wohl nicht vorsichtig genug. Wie es bald mit diesen Papieren ging, ist bekannt genug und gehört nicht weiter hierher.

Bald kamen die wichtigen weltgeschichtlichen Jahre 1812, 13 und 14 heran. Wer, der sie erlebte, denkt nicht gern und mit Freuden der Begeisterung jener Zeit, in der man des eigenen Geschicks vergaß, wenn es nicht zu schwer war! Ich lebte in dieser Zeit im Braunschweigischen. Wer hatte mehr gelitten als der Herzog selbst, wie hing ihm sein Volk an mit deutscher Treue und Liebe! Auf eine den gütigen Fürsten hochehrende Art war er mit meinen Verlusten und meiner daraus hervorgegangenen Lage bekannt geworden. Er rechnete mir, als einer Fremden, mein früheres Darlehn höher an, als es solches verdiente. Freunde von mir standen ihm nahe und machten ihn genauer mit allem bekannt. Der höchst gütige Fürst bezeigte mir in zwei Briefen seine Teilnahme an meinen Verlusten und den Wunsch, meine Lage gründlich zu ändern. Man riet mir, das Wohlwollen gleich in Anspruch zu nehmen und um eine Pension zu bitten. Das vermochte ich nicht. Ich vertraute dem fürstlichen Wort: nach glücklich beendeter Sache die Sorge für mich selbst zu übernehmen. Dies Vertrauen hätte mich gewiß nicht getäuscht, wäre er nicht bei Waterloo gefallen. –

Mehrere einflußreiche Männer in hoher Stellung interessierten sich für meine Sache, um mir einigen Ersatz zu verschaffen, aber vergeblich. Meine großen Verluste blieben, wie hart und drückend sie waren, unersetzt.

Um diese Zeit sprachen die Zeitungen viel in großen, ehrenvollen Erwartungen von dem Minister von Humboldt, der im Hauptquartier des Königs von Preußen und dann als dessen Bevollmächtigter auf dem Kongreß in Wien war. Plötzlich kam mir der Gedanke, mich in die Erinnerung des nie Vergessenen zurückzurufen, mich offen und ohne Rückhalt gegen ihn über meine dermalige Lage auszusprechen und es ihm und seiner Einsicht anheim zu stellen, ob und was für mich zu tun sei. So schnell wie der Gedanke in mir aufstieg, wurde er ausgeführt. Alles Jugendvertrauen kehrte während des Schreibens zurück. Ich gab dem teuern Freund einen möglichst kurzen Überblick über viele verhängnisvolle Jahre, verweilte aber länger bei der Gegenwart, die mir den Mut gegeben hatte zu diesem Schritt. Das heilig bewahrte Stammbuchblättchen war eine sprechende Beglaubigung. Von diesem Brief habe ich damals für mich eine Abschrift bewahrt und diese jetzt wiedergefunden, und da er die folgenden veranlaßte und den Briefwechsel eröffnete, so gehört er, stückweise, hierher und ich teile das Nötige daraus mit.

Ich bekam auf der Stelle Antwort.

Jeder, der den Vollendeten kannte, wird seinen Brief, den treuen Ausdruck des edelsten Gemüts, nicht ohne gerührtes Interesse lesen.

Ehe jedoch zu den wertvollen Briefen übergegangen wird, möchte es nötig sein zu sagen, wie die Veröffentlichung oder vielmehr der Entschluß dazu entstanden ist. Es möchte dies Pflicht sein in einer Zeit, worin so viele Briefe von vertrautem Inhalt erscheinen, die neben dem Interesse, das sie gewähren, notwendig verletzen müssen und gerechten Tadel verdienen, ohne die Wahrhaftigkeit zu beweisen.

Die Herausgabe dieser Briefe ist wie von einem unsichtbaren Willen geleitet entstanden. Ich bewahrte viele Jahre meine köstlichen, neidenswerten Briefschätze, schweigend, wie ein Heiligtum, und sah sie an wie eine unerschöpfliche Quelle höheren Lebens, woraus ich lange Jahre Mut und Kraft schöpfte und die Reife empfing, deren ich fähig war, und nur auf diese Art teilhaftig werden konnte. Eigentlich bedurfte ich für meinen Geist keine weitere Nahrung, für mein Nachdenken keinen reicheren Stoff, für meine Belehrung kein anderes Buch, für meine Seele kein helleres Licht. Dabei fand ich in allen Lagen den Trost und die Ermutigung, die mir gerade nötig waren. Höchstgütig ließ der edle Freund sich zu meiner Fassungskraft herab, so war er mir, worüber er auch reden mochte, immer verständlich, klar und überzeugend. Wenn wir auch in manchen Meinungen verschieden waren, so ging diese Verschiedenheit aus ganz verschiedenen Äußerlichkeiten des Lebens hervor. Immer aber blieb der Freund meiner Seele das leitende Prinzip meines geistigen Lebens; ich lebte von einem Brief bis zum andern mit ihm fort, und es bildete sich für mich, in einer mühe- und sorgenvollen Lage und bei untergrabener Gesundheit, ein reiches inneres Leben. Wenn ich mich immer mehr zurückzog, den Kreis meiner Freunde enger schloß, folgte ich nur meiner tiefsten Neigung; Vergnügen und Freude, und meine stille Verborgenheit war, ungekannt und ungeahnt von jedermann, höchst belebt und beseelt, ja beseligt , und war es allein durch diesen seelenvollen Briefwechsel, der nie wieder unterbrochen wurde, weder durch Reisen, noch durch Krankheiten, und bis in den Tod bestand. Dem mit mir übereinstimmenden Freunde war es eine besondere Befriedigung, daß ich so schweigend mein Heiligtum während eines halben Menschenalters bewahrte.

Die letzten Jahre meines Lebens gewährten mir wieder mehr Muße, so konnte ich mehr und tiefer in den Geist der Briefe, der in allen und jedem einzelnen weht, mich versenken und vertiefen, in diesen reichen, hocherleuchteten Geist, voll lauterer himmlischer Gesinnungen! Jahre habe ich mit diesen Briefen, und nur mit ihnen gelebt.

Oft vertieft in die Ideen des vollendeten Freundes und zugleich versenkt in Nachdenken über dies einzige Verhältnis und das, was dadurch für Zeit und Ewigkeit in mir gereift war, schien es mir nicht recht, daß so viel Wahres, Großes und Gutes mit mir untergehen sollte. Es war allerdings nur für mich geschrieben, für mich und meine Art zu empfinden berechnet, aber die überzeugenden Wahrheiten, so klar ausgesprochen, die sicheren Wege zu innerem Glück und Ruhe so unverkennbar, so klar und milde gezeigt, daß die Erkenntnis heilsam für jedes gutgeartete Gemüt sein muß.

Und das alles sollte mit mir untergehen? mit mir zernichtet werden? –

Das war vielleicht die erste innere Aufforderung, das Segensreiche so oder anders zu erhalten!

Ich fing an Auszüge zu machen, um solche im Manuskript Freunden zu hinterlassen, und erkannte bald, wie vergänglich solche Vermächtnisse sind und wie schnell verlesen. So stiegen nach und nach Gründe auf, so wertvolle Papiere durch den Druck zu erhalten. Ein großes Hindernis trat mir entgegen: der Widerwille an aller Öffentlichkeit. Was Freunden für mich hochehrend erschien, dünkte mir Entweihung. Ein zweites Hindernis war die Forderung einer strengen Durchsicht, selbst teilweise einer gänzlichen Umschreibung der gemachten Auszüge. Schwierigkeiten aller Art entstanden. So waren, wie schon gesagt, Jahre nötig, den Entschluß der Veröffentlichung zu reifen. Auch kann diese erst nach meinem Ableben stattfinden. Die Zeit, die das Unbedeutende bald erbleichen läßt, verklärt das Große und wird auch den hohen Wert der Gaben steigern, die ich denen hinterlasse, die sie verstehen, würdigen und gewiß mit Freuden empfangen.

Als heilige Pflicht erschien es mir nach dem gefaßten Entschluß, alle Auszüge selbst zu machen und eigenhändig zu schreiben. So sicherte ich Wahrheit und Treue auf einer Seite, indem ich auf der andern niemand verantwortlich machte. So kann ich aber nicht dafür einstehen, daß nicht Wiederholungen vorfallen. Ich bemerke dies im Vorbericht, um nicht später bei jedem einzelnen Fall daran zu erinnern. Ich bedarf gewiß Nachsicht und Verzeihung für solche Fehler, die ich begehen, ja nicht werde vermeiden können, da ich den Entschluß der Herausgabe zu spät gefaßt habe, und keine fremde Hilfe erbitten noch zulassen will. Man ist wohl so gütig, wenn bei aller Sorgfalt Wiederholungen der Art vorfallen, solche Stellen zu überschlagen. Der Verfasser ist es ja allein, der Interesse erregt und gewährt, und was er schreibt, entschädigt reichlich, wo mich Tadel trifft.

Von meinen Briefen ist, wie ich das gewünscht und erbeten hatte, nichts erhalten; nur von einzelnen habe ich Abschrift oder Fragmente bewahrt, um Ereignisse im Gedächtnis festzuhalten, die mir selbst nicht entschwinden sollten. Dies werde ich als Zusätze nachtragen, wo es nötig ist.

Das Geheimnis des Glücks in der Liebe
ISBN: 978-3-939198-38-3
Preis: 9,90 €

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin