Tegel , im Oktober 1826.

Sie fragen mich, liebe Charlotte, wie ich das meinte, wenn ich sagte, daß die Stimme, die Sie an jenem Novemberabend rief, eigentlich in Ihnen erschallte, da Sie dieselbe doch deutlich hinter sich vernahmen. Recht ordentlich zu erklären ist so etwas eben nicht, ich möchte hierin auch meine Ansicht nicht für die ausgemacht wahre ausgeben, aber ich habe über alles, was man Geister und Geistererscheinungen nennt, einen Glauben, der, wenn ich so sagen darf, den Glauben und Unglauben daran gewissermaßen miteinander vereinigt. Ich glaube, daß Menschen solche Erscheinungen in Tönen und Gesichten und auf jede Weise haben können, und daß dies garnicht Einbildungen einer bloß erhitzten Einbildungskraft, Täuschungen und sozusagen wachende Träume sind. Ich würde es kaum sonderbar finden, wenn mir selbst etwas dieser Art begegnete. Ich halte also diese Erscheinungen für etwas Wirkliches, durch eine überirdische Macht Hervorgebrachtes, nur daß man freilich sehr genau prüfen muß, ob in dem einzelnen Fall die Erscheinung wirklich eine von der gewöhnlichen Ideenverbindung verschiedene und keine bloße Abirrung dieser Ideenverbindung, also bloße Vorstellung der Phantasie war. Dagegen glaube ich nicht, daß solche Töne oder Gesichte ebenso außer demjenigen vorgehen, welcher sie vernimmt, als wie wenn ein leiblicher Mensch ruft oder auftritt. Daher bin ich auch etwas ungläubiger gegen solche Geschichten, wo ein Geräusch von mehreren gehört wird. Sind es nur zwei, so kann die Gleichheit der innern Seelenstimmung wohl gleichzeitige innere Erscheinungen hervorbringen. Für innerlich halte ich also Erscheinungen, von denen nicht wirkliche Beweise des Gegenteils da wären, aber so für innerlich, daß sie im Innern immer auch durch eine überirdische Macht eingeführt und geweckt werden, und daher der Mensch, der sie erfährt, weil ihn das Bewußtsein überirdischer Gegenwart und von nicht aus ihm kommender Einwirkung ergreift, sie notwendig außer sich setzt. Wie viel auch schon über diese Sache gestritten worden ist, so kann man doch nicht ableugnen, daß etwas wirklich Innerliches von dem, dem es begegnet, als durchaus äußerlich betrachtet werden kann, und der höheren überirdischen Macht ist die Hervorbringung einer Erscheinung ebenso möglich, wenn sie in der Tat eine gewissermaßen körperlich äußere, als wenn sie eine idealisch innere ist.

Der Gedanke einer verfolgenden Macht würde mir immer fremd sein. Ich habe mich niemals mit den Vorstellungen vertragen können, die eines solchen, allem Guten feindseligen, am Bösen Gefallen findenden Wesens Dasein annehmen. Im Neuen Testament halte ich die dahin einschlagenden Stellen nur für bildliche, sich an die Vorstellungen des Judentums anschließende Ausdrücke, für das Böse, das der Mensch, auch wenn er gut ist und sich ganz schuldlos glaubt, doch immer in sich zu bekämpfen hat. Es gibt unleugbar Personen, welchen mehr Widerwärtiges als Glückliches begegnet, und auch die sehr Glücklichen haben kürzere oder längere Perioden, wo der Verlauf der Umstände ihnen nicht zusagt, und sie gegen den Strom zu schwimmen genötigt sind. Dies liegt aber, auch wo es garnicht eigene Schuld oder Folge unrichtig berechneter Verfahrungsweise ist, in der natürlichen Verkettung der Umstände, wo das allgemein Notwendige oder Unvermeidliche dem Interesse des einzelnen zuwider ist. Sehr oft, und dies ist mir bei weitem wahrscheinlicher, kann es auch Fügung der mit weiser und immer wohltätiger Strenge heilsam züchtigenden und prüfenden Vorsehung sein; denn die Züchtigung überirdischer und übermenschlicher Weisheit setzt nicht gerade immer Schuld voraus. Es kann in den Wegen und Pfaden der über alle menschliche Vernunft hinausreichenden Einsicht liegen, auch ohne Verschulden, zur bloßen heilsamen Zurückführung auch den ganz Schuldlosen zu züchtigen. Auch ist der Beste, wenn er nur die Selbstprüfung mit gehöriger Strenge anstellt, nicht von Flecken rein, und es können in seinen bewußtlosen Empfindungen solche liegen, die ihn zur Schuld führen würden, wo aber der Schuld durch die heilsam angebrachte Züchtigung vorgebeugt wird. Der Mensch selbst ist zu kurzsichtig und sein Blick zu trübe, dies einzusehen, allein die in der Höhe waltende Macht durchschaut es und weiß es zu lenken und zum Besten zu kehren. Alles dies pflege ich mir zu sagen, oft ohne äußere Veranlassung, allein auch besonders da, wo, wie's auch mir geschieht, das Schicksal den Wünschen entgegenwirkt, und eine Periode der Widerwärtigkeit oder des wahren Unglücks eintritt. Ich werde dann vorsichtiger als sonst im Handeln, und ohne mich im geringsten beugen oder betrüben zu lassen; suche ich durchzusteuern, so gut es gehen will. Wenn ich sage, ohne mich zu betrüben, so meine ich damit nicht, daß mich die einzelnen Unfälle nicht betrüben sollten (was unvermeidlich ist), sondern nur, daß ich ihr Eintreten überhaupt, die Wendung vom Glück zum Gegenteil nicht als etwas Feindseliges, sondern als etwas Natürliches, mit dem Weltgang und der menschlichen Natur eng Verbundenes, oft sogar Heilbringendes nehme. Nach dieser in mir festgewordenen Ansicht kann ich an eine verfolgende oder gar nur neckende Macht nicht glauben. Ich gestehe, daß ich einen solchen Glauben nicht einmal bei andern dulden oder unangefochten lassen könnte. Es ist eine finstere, beengte Vorstellung, die der Güte der Gottheit, der Größe der Natur und der Würde der Menschheit widerspricht. Dagegen hat der Glaube an eine, unter Zuladung und Leitung der höchsten, untergeordnete, schützende Macht etwas Schönes, Beruhigendes und den reinsten und geläutertsten Religionsideen Angemessenes. Ich möchte ihn daher niemand rauben, der durch seine Natur angeregt wird, ihn zu haben und zu hegen. Mir ist er jedoch nicht eigen, und er gehört auf alle Fälle zu denjenigen religiösen Vorstellungen, die nicht allgemein geboten sind, sondern bei denen es auf die individuelle Neigung und Stimmung ankommt.


Es wird mich sehr freuen, wenn Sie Zeit und Stimmung haben, Ihre Lebenserzählung fortzusetzen. Leben Sie herzlich wohl und rechnen Sie fest auf die Dauer der Gesinnungen, die Ihnen immer von mir gewidmet bleiben. Ihr H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin