Tegel , den 9. Februar 1833.

Es tut mir leid, liebe Charlotte, daß Ihnen dieser Brief später als gewöhnlich zukommen wird. Ich habe aber wegen eines Geschäftes einige Tage in der Stadt sein müssen, und da komme ich nicht zum ruhigen Schreiben. Da ich Berlin jetzt selten besuche, so drängt sich dann alles, Menschen und Sachen, zusammen, und es bleibt mir nicht einmal die materielle Zeit übrig, etwas für mich anzufangen, wenn ich auch garnicht von der Stimmung reden will. Ich verlor aber gerade auf diese Weise die ersten Tage des Monats, in denen ich Ihnen jetzt gewöhnlich zu schreiben pflege. Ich hoffe, Sie werden sich über das Ausbleiben des Briefes nicht beunruhigt haben. Sie müssen das niemals tun, liebe Freundin, darum bitte ich sehr. Der kleinen, ganz unbedeutenden Ursachen, warum ich Ihnen an diesem oder jenem Tage nicht schreibe, können sehr viele sein, und ich kann sie so wenig voraussehen, als Sie sie erraten. Aber Sie können sicher eine von diesen voraussetzen, wenn meine Briefe Ihnen über die gewohnte Zeit ausbleiben. Da ich zu derselben Zeit im Monat jetzt gewohnt bin, Ihnen zu schreiben, so bekommen Sie nach einer ziemlich längeren Pause hernach zwei Briefe schneller nacheinander, was Ihnen Freude macht, da Sie auf meine Briefe einen viel größeren Wert legen, als sie verdienen. Diese Ihre Freude ist auch mir eine und macht, daß ich Ihnen willig die Zeit opfere, die es mich kostet. Seit vorgestern bin ich wieder hier, und heute schon setze ich mich hin, um mich mit Ihnen zu unterhalten. Denn eine Unterhaltung kann man unseren Briefwechsel vorzugsweise nennen. Da er sich meist um Ideen dreht und die äußeren Lebensverhältnisse sehr wenig angeht, so gleicht er darin einem räsonnierenden Dialog, und Ideen sind ja nur das einzig wahrhaft Bleibende im Leben. Sie sind im eigentlichsten Verstande das, was den denkenden Menschen ernsthaft und dauernd zu beschäftigen verdient. Auch Sie nehmen ebenso lebhaftes Interesse daran, und daß Ihnen meine Briefe Freude machen, liegt vorzüglich in diesem ihrem Inhalte. Es ist mir auch ein besonderer Grund der Zufriedenheit und Freude an Ihrer Art zu schreiben, daß Sie nicht mehr, wie Sie es sonst oft taten, darauf dringen, daß ich Ihnen von dem erzähle, was mich angeht, und über das Mitteilungen mache, was mich umgibt, was garnicht in meinem Wesen liegt. Darum müssen Sie nun aber ja nicht denken, daß ich es auch gern habe, wenn Sie über sich schweigen. Es macht mir im Gegenteil wahre Freude, wenn ich Ihr inneres Leben in allen Ihren äußeren Umgebungen sehe. Vergessen Sie also nicht, mir auch ferner von Zeit zu Zeit diesen Überblick wie bisher zu geben....

Sie bitten mich in Ihrem letzten Brief, Ihnen noch nähere Erläuterungen darüber zu geben, was ich eigentlich damit meine, daß man in gewissen Lebensepochen innerlich das tun müsse, was man äußerlich sein Haus bestellen nenne. Ich habe darunter etwas sehr Einfaches und ganz der gewöhnlichen Bedeutung der Redensart Entsprechendes verstanden. Man sagt, daß man sein Haus bestellt hat, wenn man Sorge getragen hat, alles das auf den Fall seines Todes zu berichtigen, was bis dahin unberechtigt geblieben war. Die Redensart schließt ferner in sich, daß man angeordnet habe, wie es mit den Dingen, die einem angehören, nach dem Hintritt werden soll. Von allen Seiten schneidet also das Hausbestellen Verwickelung, Ungewißheit und Unruhe ab und befördert Ordnung, Bestimmtheit und Seelenfrieden. So nimmt man den Ausdruck im äußeren, weltlichen Leben. Auf viel höhere und edlere Weise aber findet das ähnliche im Geistigen statt. Auch darin gibt es mehr und minder Wichtiges, mehr und minder an das irdische Dasein Geknüpftes, mittelbar oder unmittelbar mit dem Höchsten im Menschen Verbundenes. Ich meine damit nicht gerade, wenigstens nicht ausschließlich, Religionsideen. Was ich hier meine, gilt auch von solchen, die garnicht in diesen Kreis gehören. Es läßt sich überhaupt nicht im allgemeinen bestimmen, was hier das Höchste und Wichtigste genannt wird. Jedermann pflegt aber in sich die Erfahrung zu machen, daß er gerade dem, was in ihm das Tiefste und Eigentümlichste ist, die wenigste Muße widmet und sich viel zu viel durch untergeordnete Gegenstände das Nachdenken rauben und entreißen läßt. Dies muß man abstellen, den störenden Beschäftigungen entsagen und sich mit Eifer den wichtigeren widmen. Noch mehr aber geht diese Sammlung auf eine kurze Spanne noch übrigen Lebens, wie man es auch nennen könnte, in dem Gebiete des Gefühls vor. Doch ist hier im allgemeinen ein großer und wichtiger Unterschied. Im Intellektuellen und allen Sachen des Nachdenkens hat der Vorsatz volle Kraft. Man kann und muß absichtlich die Gedanken und das Nachdenken auf gewisse Punkte richten. Im Gefühl ist das nicht nur unmöglich, sondern würde auch geradezu schädlich sein. Im Gebiete des Empfindens läßt sich nichts Unfreiwilliges, nichts Erzwungenes denken. Da kann also die Änderung nur von selbst eintreten und ist mit der Reife einer Frucht zu vergleichen. Sie geht von selbst vor sich, so wie die ganze Seelenstimmung verrät, daß dies Loslassen vom hiesigen Dasein in das Gemüt ganz übergegangen ist. Die Änderung besteht auch da in einem Vereinfachen und Zurückziehen des Gemüts auf sich selbst, doch läßt sich hier noch weniger als im Gebiet des Denkens, aus einer einzelnen Individualität heraus, etwas allgemein Geltendes sagen. In mir ist es ganz einfach so zugegangen, daß sich mein Gemüt so auf eine Empfindung konzentriert hat, daß es jeder anderen unzugänglich geworden ist, insofern nämlich, als ich durch eine andere Empfindung etwas empfangen sollte. Denn auf keine Art bin ich dadurch kalt und unteilnehmend geworden, nur uneigennütziger und wirklich jeder Forderung entsagend. Nicht bloß mit Menschen ist es mir aber so, auch an das Schicksal mache ich keine Forderung. Ich würde Ungemach wie ein anderer fühlen, das läßt sich aus der menschlichen Natur nicht ausrotten. Entbehrung bleibt Entbehrung und Schmerz bleibt Schmerz. Aber den Frieden meiner Seele würden sie mir nicht nehmen, das würde der Gedanke verhindern, daß solche Ereignisse und Zustände natürliche Begleiter des menschlichen Lebens sind, und daß es nicht geziemend wäre, in einem langen Leben nicht einmal die Kraft gewonnen zu haben, seine höhere und bessere Natur gegen sie aufrecht erhalten zu können. Ich weiß nicht ob ich Ihnen so deutlich genug geworden bin. Wäre es nicht der Fall, oder schiene Ihnen meine Ansicht nicht richtig, so werde ich sehr gern weiter und ausführlicher in die Sache eingehen. Sie reden in Ihrem Briefe von Gedächtnishilfen, die Sie sich ersonnen haben, und erbieten sich, mir mehr darüber zu sagen, wenn ich es wolle. Tun Sie es ja. Leben Sie wohl! Mit immer gleichem Anteil der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin