Tegel , den 7. März 1832.

Ich habe zwei liebe Briefe von Ihnen zur Beantwortung vor mir und fange in meiner Erwiderung zuerst mit dem an, womit Sie enden, mit dem Duell. Ich habe die erste Nachricht davon durch Sie erfahren, da ich Zeitungen sehr unordentlich und oft in vier und sechs Wochen gar keine lese. Das wird Ihnen unglaublich scheinen. Aber die sogenannten großen Begebenheiten bieten seit Jahren so wenig dar, woran sich das Gemüt innerlich interessieren könnte, daß mir sehr wenig daran liegt, sie früher oder später oder auch garnicht zu erfahren. In solche Periode des Nichtlesens war jene unselige Geschichte gefallen.

Mit den Duellen ist es übrigens eine eigene Sache. Viele sind freilich bloße Jugendtorheiten. Allein mit anderen verhält es sich doch anders. Sie sind ein notwendiges Übel, und in ihnen selbst liegt eine edle Art, einen einmal unheilbaren Zwiespalt zu lösen und abzumachen. Im Volke ziehen sich Feindschaften mit Erbitterung und Rachsucht jahrelang hin. Der Zweikampf, der nicht immer lebensgefährlich ist und oft ganz unblutig abgeht, führt schnell die Versöhnung herbei und endet allen Groll.


Sie haben, liebe Charlotte, sehr lange der Sterne nicht erwähnt, aber gewiß versäumen Sie solche nicht. Ich habe sie nie schöner als dies Jahr gesehen. Die Gegend um den Orion ist bezaubernd. Ich habe an zwei schönen Abenden meinen Spaziergang bis zur recht späten Sternenzeit verlängert und einen großen Genuß gehabt. Von jeher habe ich meine Spaziergänge gern so eingerichtet, daß der Sonnenuntergang die größere Hälfte desselben beschließt. Es hat etwas so Liebliches, die Dämmerung nach und nach untergehen zu sehen. Die Nacht hat überhaupt manche Vorzüge vor dem Tage. Eine stürmische ist erhabener, und eine sanfte und stille zieht das Gemüt ernster und tiefer an. Die kleineren Sterne entgehen nur jetzt meinen Augen, und man gewinnt doch nur dann eine richtige Ansicht der Sternbilder, wenn man auch die kleineren Sterne darin aufsuchen kann. Vormittags ist es eigentlich wärmer und in gewisser Art, besonders im Winter, besser zu gehen. Ich tue es aber nie, oder höchstens wenn mich jemand, was ich aber garnicht liebe, um die Tageszeit besucht. Überhaupt ist es eine große Rettung vor langweiligen Besuchen auf dem Lande, den Schauplatz ins Freie zu verlegen. Die langweiligen Töne verhallen leichter in der weiten Luft, und man hat mehr Zerstreuung um sich her, indem man ihnen ein halbes Ohr leiht.

Es ist schön, daß Sie fortwährend an sich arbeiten. Jeder bedarf dessen. Außerdem hat man über keinen Gegenstand alle Momente zur Beurteilung so vollständig und richtig beisammen, da man nur in den eigenen Busen hinabzusteigen braucht. Zwar kann auch das täuschen, man beschönigt die Schwächen oder vergrößert aus einer anderen Verirrung der Eitelkeit die Schuld seiner Fehler, denn allerdings findet die Beurteilung dadurch Schwierigkeit, daß der Gegenstand der Beurteilung das eigene Ich ist. Wenn man aber mit schlichter Einfachheit des Herzens und in der reinen und ungeheuchelten Absicht die Prüfung unternimmt, um vor sich und seinem Gewissen gerechtfertigt dazustehen, so hat man von jener Gefahr nichts zu fürchten. Und ein lebendiges Bild seines Inneren muß sich jeder immer machen. Es ist gewissermaßen der Punkt, auf den sich alles andere bezieht. Man muß bei dieser Selbsterforschung nicht streng nur bei demjenigen stehenbleiben, was Pflicht und Moral angeht, sondern sein inneres Wesen in seinem ganzen Umfange und von allen Seiten nehmen. Wirklich ist es ein viel zu beschränkter Begriff, wenn man sich selbst gleichsam vor Gericht ziehen und nach Schuld und Unschuld fragen will. Die ganze Veredlung des Wesens, die möglichste Erhebung der Gesinnung, die größte Erweiterung der inneren Bestrebungen ist ebensowohl die Aufgabe, die der Mensch zu lösen hat, als die Reinheit seiner Handlungen. Es gibt auch im Sittlichen Dinge, die sich nicht bloß unter den Maßstab des Pflichtmäßigen und Pflichtwidrigen bringen lassen, sondern einen höheren fordern. Es gibt eine sittliche Schönheit, die so wie die körperliche der Gesichtszüge eine Verschmelzung aller Gesinnungen und Gefühle, einen freiwilligen Zusammenhang derselben zu geistiger Einheit erheischt, die sichtbar zeigt, daß alles einzelne darin aus einem aus der innersten Natur flammenden Streben nach himmlischer Vollendung quillt und daß der Seele ein Bild unendlicher Größe, Güte und Schönheit vorschwebt, das sie zwar niemals erreichen kann, aber von da immer zur Nacheiferung begeistert, zum Übergang in höheres Dasein würdig wird. Auch die Entwickelung der intellektuellen Fähigkeiten bis zu einem gewissen Grade gehört zu der allgemeinen Veredlung. Aber ich bin ganz Ihrer Meinung, daß dazu nicht gerade vieles Wissen und Bücherbildung gehört. Das aber ist wirklich Pflicht und ist auch dem natürlichen Streben jedes nicht bloß an der irdischen Welt, ihrem Gewirre und Tand hängenden Menschen eigen, in den Kreis von Begriffen, den er besitzt, Klarheit, Bestimmtheit und Deutlichkeit zu bringen und nichts darin zu dulden, was nicht auf diese Weise begründet ist. Das kann man wohl das Denken des Menschen nennen. Dazu ist das Wissen nur das Material. Es hat keinen absoluten Wert in sich, sondern nur einen relativen in Beziehung auf das Denken. Der Mensch sollte nicht anders lernen, als um sein Denken zu erweitern und zu üben, und Denken und Wissen sollten immer gleichen Schritt halten. Das Wissen bleibt sonst tot und unfruchtbar. In Männern findet sich das sehr oft, ja man möchte es als die Regel ansehen. Es fällt aber weniger auf, weil schon ihr Wissen gewöhnlich zu anderen äußeren Zwecken und Nutzen wenigstens eine Anwendung findet. Aber ich habe es auch bei Frauen gefunden, und da erregt das Mißverhältnis des Denkens zum Wissen ein viel größeres Mißbehagen. Ich kenne von meiner frühesten Jugend an und vor der Universität eine Frau dieser Art, der ich durch alle Perioden ihres Lebens gefolgt bin. Sie kennt sehr gründlich die alten und die meisten neueren Sprachen, ist frei von aller Eitelkeit und Affektation, versäumt nie über den Büchern eine häusliche Obliegenheit, hat aber durch ihr Wissen nichts an Interesse gewonnen. Wenn sie gleich die ersten und schwersten Schriftsteller aller Nationen gelesen hat, schreibt sie darum doch keinen Brief, der einem sonderlich zusagen könnte. Sie bemerken ganz recht in dieser Beziehung, daß Christus seine Jünger aus der Zahl ungebildeter und unwissender Menschen wählte. Es hing aber auch mit den Zwecken und der Natur der Religion, die er stiften wollte, zusammen, und in dem Volke, in dem er auftrat, gab es in jener Zeit kein anderes Wissen als ein totes und mißverstandenes. Es gab nur Schriftgelehrte, welche das Auslegen der heiligen Bücher auf eine spitzfindig-hochmütige Weise mit Bedrückung und Verachtung des Volkes trieben.

Erhalten Sie Ihre Gesundheit und heitere Gemütsstimmung. Mit unveränderlicher Teilnahme der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin