Tegel , den 7. April 1833.

Ich bin schon lange im Besitz Ihres Briefes, liebe Charlotte, habe aber nicht früher dazu kommen können, ihn zu beantworten. Sie haben ihn bloß vom Monat März datiert und gegen Ihre Gewohnheit nicht den Tag des Abgangs vermerkt. Ich bitte Sie, ihn künftig immer hinzuzusetzen. Ein Brief, von dem man nichts als den Monat weiß, ist eine zu unbestimmte Mitteilung, und ich habe immer auf die Tage gehalten. Man kann eher noch etwas im Raum unbegrenzt lassen. Die Empfindung der Zeit greift überhaupt tiefer in die Seele ein, was wohl daran liegt, daß der Gedanke und die Empfindungen sich in der Zeit bewegen.... Ich habe oft, fast von meiner Kindheit an, angefangen, Tagebücher zu halten und sie nach einiger Zeit wieder verbrannt. Es tut mir aber sehr leid, nicht wenigstens von jedem Tage aufgezeichnet zu haben, wo ich war und was ich vorzüglich tat, oder wer mir begegnete. Ich würde mich sehr freuen, das von meinem zehnten Jahre an zu besitzen. Von ausführlichen Tagebüchern und solchen, die Beurteilungen der Handlungen und Gesinnungen enthalten sollen, halte ich sonst nicht viel. Es geht einem, wie man es anfangen möge, nie ganz ein, für sich selbst und an sich selbst gerichtet zu schreiben. Wenn man das Geschriebene auch niemand zeigt noch zeigen würde, so schreibt man doch wie einem imaginierten Publikum gegenüber. Man ist wirklich mehr befangen, als wenn man die Selbstbeurteilung an eine einzelne bestimmte Person richtet. Das Interesse an dieser zieht da die Seele davon ab, sich zu sehr mit sich selbst zu beschäftigen und zu sehr auf sich Rücksicht zu nehmen, stellt dadurch die Unbefangenheit wieder her und befördert die Naivität der Erzählung. Überhaupt ist nicht eben zu fürchten, daß man sich in solchen Aufzeichnungen über sich selbst zu sehr schont, oft liegt sogar die Übertreibung der Wahrheit im Gegenteil. Was dagegen eher zu fürchten sein kann, ist, daß die Eitelkeit dabei Nahrung findet. Man hält leicht, je mehr man sich mit sich selbst beschäftigt, alles, was einen betroffen hat, für außerordentlicher, als was anderen begegnet ist, und legt auf jeden Zufall wie auf eine Absicht Wert, welche Gott mit uns gehabt hätte. Indes können solche Fehler vermieden werden, und dann wird gerade ein solches Tagebuch zu einer zugleich anziehenden und nützlichen Selbstbeschäftigung....

Die Zeit ist nur ein leerer Raum, dem Begebenheiten, Gedanken und Empfindungen erst Inhalt geben. Da man aber weiß, daß sie, wenn man auch viel Einzelnes davon kennt, diesen Inhalt freudvoll und leidvoll für empfindende Menschen getragen hat, so ist sie an sich immer das Herz ergreifend. Auch ihr stilles und heimliches Walten hat etwas magisch Anziehendes. Der Tag, an dem einem ein großes Unglück begegnet, ist eine lange Reihe von Jahren ungeahnt an einem vorbeigegangen, und ebenso still und unbekannt schreitet der an uns vorüber, an dem uns ein Unglück unwandelbar bevorsteht. Denkt man aber der Folge der Zeit nach, so verliert man sich darin wie in einem Abgrund. Es ist nicht Anfang noch Ende. Ein großer Trost liegt aber im Wandel, da er immer an ein höchstes Gesetz, an einen ewiglenkenden Willen in unverrückter Ordnung erinnert. Das Erkennen dieser Ordnung ist in allen Welteinrichtungen, bei der Hinfälligkeit der menschlichen Natur und der scheinbar oft regellos zermalmenden Gewalt der Elemente, etwas sehr Beruhigendes. Am regelmäßigen Sonnenlauf und Mondeswechsel muß das auch ganz rohen Nationen anschaulich werden. Je mehr die Kenntnis der Natur zunimmt, desto mehr wächst die Zahl der Beweise dieser Ordnung. Zur eigentlichen Einsicht in den Sternenlauf ist schon wissenschaftliche Beobachtung notwendig. Steigt diese, wie bei uns, zum höchsten Grade, so werden wieder Abweichungen bemerkbar und Dinge, die sich in die sonstige Ordnung nicht passen lassen. Diese sind sichere Beweise, daß die Forschung noch ein neues Feld zu Entdeckungen vor sich hat. Denn alles wissenschaftliche Arbeiten ist nichts anderes, als immer neuen Stoff in allgemeine Gesetze zu bringen...


Sie klagen im ganzen über Ihr Gedächtnis, nehmen aber einiges aus. Mehr können wenige von sich sagen. Das Gedächtnis ist nach Gegenständen verteilt, und in niemanden ist es für alle gleich gut. Das angenehmste ist ein leichtes Gedächtnis für Gedichte. Ist das mit wahrem Geschmack in der Auswahl und mit Talent im Hersagen verbunden, so gibt es keine andere, das Leben gleich verschönende Gabe. Zum guten Hersagen gehört aber unendlich viel: zuerst freilich nur Dinge, die jede gute Erziehung jedem geben kann, richtiges Verstehen des Sinnes, eine gute, deutliche, von Provinzialfehlern freie Aussprache; aber dann freilich Dinge, welche nur angeboren werden, ein glückliches, schon in sich seelenvolles Organ, ein feiner musikalischer Sinn für den Fall des Silbenmaßes, ein wahrhaft dichterisches Gefühl und hauptsächlich ein Gemüt, in dem alle menschlichen Empfindungen rein und stark wiederklingen. Der Genuß, den ein solches Wiedergeben wahrhaft schöner Gedichte gewährt, ist in der Tat ein unendlicher. Er ist mir oft und im höchsten Grade geworden, und ich rechne das zu den schönsten Stunden des Lebens. Aber auch das eigene Auswendiglernen und Auswendigwissen von Gedichten oder von Stellen aus Gedichten verschönert das einsame Leben und erhebt oft in bedeutenden Momenten. Ich trage mich von Jugend an mit Stellen aus dem Homer, aus Goethe und Schiller, die mir in jedem wichtigen Augenblicke wiederkehren und mich auch in den letzten des Lebens nicht verlassen werden. Denn man kann nichts Besseres tun, als mit einem großen Gedanken hinübergehen...

Ich befinde mich, Gott sei gedankt, recht wohl, gehe aber doch den Sommer wieder ins Seebad nach Norderney. Man findet, daß es meine Schwächlichkeiten vermindert hat. Das sehe ich nun zwar nicht, und auch Sie werden es, an meinem Schreiben wenigstens, nicht gewahr werden. Allein das ist wohl möglich, und das glaube ich sogar selbst, daß der jährliche Gebrauch des Bades diese meine Schwächlichkeiten auf dem Punkte erhält, auf dem sie jetzt sind. Vielleicht sind auch die Wellen unschuldig daran. Aber man ist gern dankbar, und die See ist ein so schöner und großer Gegenstand, daß man ihr gern dankbar ist. Gern gehe ich aber nicht hin, es ist mir eine lästige Störung. Aber wenn ich mich einmal in das Notwendige fügen muß, so nehme ich mir das Angenehme heraus und gehe leicht über das Lästige hinweg, ob ich mich gleich von meiner hiesigen Einsamkeit so ungern als von einer geliebten Person trenne.

Mit der Gegenwart sind Sie so dankbar zufrieden. Vertrauen Sie auch der Zukunft und hegen keine ängstlichen Besorgnisse. Sie ist allerdings ungewiß, aber bedenken Sie, daß die ewige Güte wacht, daraus entspringt Vertrauen, und dies muß man im Herzen nähren. Mit inniger Teilnahme unabänderlich der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin