Tegel , den 6. bis 9. Mai 1830.

Ich sage Ihnen, liebe Charlotte, meinen herzlichen Dank für Ihren am 27. April abgegangenen Brief, den ich richtig empfangen habe. Mit meinem Befinden geht es sehr gut, und ich empfinde weder Folgen des nassen Frühjahrs noch des strengen Winters. Dennoch machen sich die Folgen im allgemeinen sehr fühlbar. Eine Menge von Leuten leiden hier an kaltem Fieber. Ich habe für den Sommer meine Lebensart etwas geändert. Ich stehe jetzt regelmäßig um sechs Uhr auf. Dafür gehe ich aber auch immer vor, spätestens um Mitternacht zu Bett. Die Morgenstunden haben mehr Reiz für mich, und so schreibe ich Ihnen, liebe Freundin, heute in der Frühe. Es ist das erste, womit ich heute den Tag beginne. Auf meinen Schlaf hat weder das frühe noch späte Aufstehen einigen Einfluß. – – Die Nacht hat etwas unglaublich Süßes. Die heiteren Ideen und Bilder, wenn man solche haben kann, wie ich ehemals oft erfahren, nehmen einen sanfteren, schöneren, in der Tat seelenvollen Ton an, dabei ist es, als ob man sie inniger genösse, da in der Stille nichts, nicht einmal das Licht sie stört. Kummervolle und wehmütige Erinnerungen und Eindrücke sind dagegen auch milder und mehr von der Ruhe durchströmt, die jede Trauer leichter und weniger zerreißend macht. Man kann auch dem Kummer ruhiger nachhängen, und ein tiefes Gemüt sucht doch nicht den Kummer zu entfernen, am wenigsten zu zerstreuen, sondern sucht ihn so mit dem ganzen Wesen in Einklang zu bringen, daß er Begleiter des Überrestes des Lebens bleiben kann. Ich kann mich jetzt schon auf die langen Winternächte freuen und habe, was ich hier sage, im vorigen Winter oft erfahren. Bedenkt man auf der anderen Seite wieder, wie freudig und schön das Licht ist, so gerät man in ein dankbares Staunen, welch einen Schatz des Genusses und wahren Glückes die Natur allein in den täglichen Wechsel gelegt hat. Es kommt nur darauf an, ein Gemüt zu haben, ihn zu genießen, und das liegt doch in jedes Menschen eigener Macht. Alle Dinge, die einen umgeben, schließen für den Geist und die Empfindung Stoff zur Betrachtung, zum Genuß und zur Freude in sich, der ganz verschieden und unabhängig ist von ihrer eigentlichen Bestimmung und von ihrem physischen Nutzen; je mehr man sich ihnen hingibt, desto mehr öffnet sich dieser tiefere Sinn, die Bedeutung, die halb ihnen, die sie veranlassen, halb uns, die wir sie finden, angehört. Man darf nur die Wolken ansehen. An sich sind sie nichts als gestaltloser Nebel, als Dunst, Folgen der Feuchtigkeit und Wärme, und wie beleben sie, von der Erde gesehen, den Himmel mit ihren Gestalten und Farben, wie bringen sie so eigene Phantasien und Empfindungen in der Seele hervor.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin